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Elternbrief Nr. 1

(07/05)

 

 

 

Viele Eltern machen sich Sorgen um ihre Kinder in der Grundschule. Sie haben allen Grund dazu, wenn sie nicht gerade den Vorteil genießen können, in Bayern wohnen zu dürfen. Auch nach den Ergebnissen aus der neuesten PISA-Studie darf die bayrische Schule – kurz hinter dem erstplatzierten Finnland – in der internationalen ersten Liga mitspielen, aber auch Baden-Württemberg und Sachsen haben fast den Anschluss zur Spitze gefunden. Insgesamt liegt Deutschland wieder nur im Mittelfeld. Schlimm für Kinder in Nordrhein-Westfalen: Im Testbereich „Lesen“ ist NRW als einziges Bundesland noch mehr zurückgefallen und jetzt weit unter internationalem und bundesdeutschem Durchschnitt gelandet. Da das richtige Schreiben bei PISA nicht gemessen wird, ein kurzer Blick zurück auf die IGLU-Grundschulstudie (2001): Bayern und Baden-Württemberg lagen seinerzeit dort in der Orthographie ganz oben, NRW und Hessen noch unter bundesdeutschem Durchschnitt. Warum auch immer: Viele Bundesländer hatten allerdings  bei IGLU erst gar nicht mitgemacht. 

Aber die Sorgen der Eltern sind durchaus berechtigt! Und Eltern, die mit skeptischen Blicken den Grundschulunterricht mit seinen „neuen Methoden“ verfolgen, befürchten gar nicht zu Unrecht: Es könnte alles noch viel schlimmer werden!    


Lernen unsere Kinder in der Grundschule von heute überhaupt noch richtig schreiben und lesen?


Das ist tatsächlich immer häufiger die bange Frage vieler Eltern, seitdem bekannt wurde, dass der Unterricht nach der Methode „Rechtschreibwerkstatt“ des Diplompsychologen Sommer-Stumpenhorst keineswegs so erfolgreich ist, wie er immer wieder mit überschwänglichen  Worten gepriesen wird. In einer auf zwei Jahre angelegten Studie (2002-2004) der Universität Marburg fand Prof. Dr. Schulte-Körne heraus, dass die „Rechtschreibwerkstatt“ für den Schriftspracherwerb im Anfangsunterricht - wie „bildungsklick“ vom 28. Juni 2005 schrieb -, „ungeeignet“ ist. Überlegener Testsieger war der Unterricht mit der Fibel „Lollipop“. Der Anteil der lese- und rechtschreibschwachen Risiko–Kinder lag nach den beiden ersten Schuljahren in der Fibelgruppe bei 5%, in der Sommer-Stumpenhorst-Gruppe bei 23% (siehe > Anlagen!). Unschwer läst sich daraus folgern: Der Unterricht mit der „Rechtschreibwerkstatt“ von Sommer-Stumpenhorst  produziert in den beiden ersten Schuljahren nahezu fünf mal so viele rechtschreibschwache Kinder wie der Unterricht mit der Fibel. Dennoch: Im Land NRW ist die „Rechtschreibwerkstatt“ nahezu flächendeckend eingeführt, und in Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland sind die Grundschulen auf dem besten Wege dorthin.


Die Geschäfte der Nachhilfeinstitute boomen – die Zeche zahlen die Eltern


Die Betreiber der Nachhilfeinstitute reiben sich die Hände: Noch nie zuvor war der Andrang schon von Erstklässlern so groß. Doch so sehr sich auch dort Fachkräfte um die lese-/rechtschreibschwachen Kinder redlich bemühen, oft setzt die Hilfe zu spät ein. Rechtschreib-/Leseschwächen wachsen sich nicht von selbst aus, sie sollten bis zum Ende von Klasse 2 erkannt werden, dem spätesten Zeitpunkt, zu dem eine wirklich effektive Behandlung noch aussichtsreich ist. Wesentlich später beginnende Fördermaßnahmen haben dann oft nur noch den Charakter eines Reparaturversuchs.

Offen reden Eltern jedoch zumeist nicht darüber, wenn sie ihre Kinder zur Nachhilfe schicken, besonders nicht bei den Lehrern/Lehrerinnen: Sie befürchten, dass ihren Kindern Nachteile widerfahren könnten. Aber es gibt sie bereits zuhauf, die ratlosen und aufgebrachten Eltern, die den Schulen vorwerfen, nicht effektiv den Service zu leisten, für den sie ihre Steuern bezahlen: Schließlich belasten die Gebühren, die sie für den Nachhilfeunterricht zu entrichten haben, oft genug in erheblichem Umfang ihr Haushaltsbudget bis an die Grenzen des noch Leistbaren. Kinder aus sozialschwachem Milieu bleiben ohne Chance. Schon der erfolgreiche Besuch der Grundschule kann also mittlerweile auch in Deutschland vom Geldbeutel abhängig sein. Eltern sollten sich aber von unseren Schulpolitikern nicht hinters Licht führen! Die in den allermeisten Bundesländern geplante „offene Ganztagsschule“ wird mit ihren lächerlichen Angeboten die bei den Kindern schulischerseits  verursachten Defizite auch nicht ausgleichen können: Förderunterricht für schwächere SchülerInnen am Nachmittag ist eher die Ausnahme, es geht um Kinderaufbewahrung  mit begrenztem Freizeitangebot. Wer diese Veranstaltung am Nachmittag – allen Ernstes – „Ganztagsschule“ nennt, weiß 0ffenbar wirklich nicht, was eine Ganztagsschule ist.

 

Grundschulunterricht jenseits von Recht und Gesetz

 

Wenn, wie jüngst in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt geschehen, Eltern der Lehrerin ihrer nach der „Rechtschreibwerkstatt“ unterrichteten Kinder mit einer Anzeige wegen Vernachlässigung ihrer Fürsorgepflicht drohen – und sie das auch in die Tat umsetzen würden - könnte es sehr eng werden: für den Lehrer/die Lehrerin. Die Materialien, die zur Praxis des Unterrichtswerks  „Rechtschreibwerkstatt“ benötigt werden und durch den Collishop der Rechtschreibwerkstatt GbR über Internet vertrieben werden, besitzen nämlich - das ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich – in der Regel nicht einmal die einfache Zulassung zum Unterricht! Üblicherweise darf keine Fibel, kein Lesebuch, kein Sprachbuch ohne Zulassung in die Schulen. Immerhin gibt für das Land NRW die Schulministerin Sommer am 15. August 2005 in einem Schreiben selber zu: „Auch der Einsatz der für die Rechtschreibwerkstatt benötigten Materialien fällt nicht unter die Zulassungspflicht von Lernmitteln gemäß § 30 Schulgesetz“. Für die „Rechtschreibwerkstatt“ bedeutet dies, dass die Schulministerin das dazugehörige Materialienwerk zu den sog. ergänzenden Materialien zählt, die nur zum kurzfristigen Einsatz in der Schule bestimmt sind und keine besondere Zulassung brauchen (etwa Atlanten, Wörterbücher, Lexika .... ). Zu dieser Kategorie der Lernmittel gehören die Sommer-Stumpenhorst-Materialien aber auf keinen Fall! LehrerInnen in NRW, die – wie von Sommer-Stumpenhorst vorgesehen – die „Rechtschreibwerkstatt“ etwa fortwährend übers Schuljahr hinweg einsetzen, verstoßen somit gegen § 30 SchulG (Schulgesetz) NRW sowie gegen den RdErl. (Runderlass) des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes NRW vom 03.12.2003.

Fragwürdig ist natürlich auch das: Weil Sommer-Stumpenhorst für den Unterricht mit seiner „Rechtschreibwerkstatt“ den Einsatz einer Fibel für überflüssig hält – und Schulen sich zusätzlich zu den sündhaft teuren Materialien aus dem collishop die Anschaffung einer Fibel nicht leisten könnten - , werden an vielen Schulen schon Erstklässler mit einer kaum mehr beherrschbaren Fülle von Kopien aus allen möglichen Fibeln, Sprach- und Lesebüchern überschüttet. Finanziert werden diese Kopierorgien an den meisten Schulen von den Eltern. In einer hessischen Gemeinde haben indes Eltern vor kurzem der Blätterflut ein effektives Ende gesetzt: Sie bezahlen keine Kopiergelder mehr. Eltern sollten doch ab und zu mal in die Schultaschen ihrer Kinder schauen! Sie bekämen die Bestätigung dafür, was die Grundschulstudie IGLU in 2001 auch noch feststellte: Beim Verteilen kopierter Arbeitsblätter sind Deutschlands GrundschullehrerInnen Weltspitze. Im norddeutschen Raum soll allerdings jüngst eine Lehrerin empfindlich bestraft worden sein, weil sie regelmäßig Arbeitsblätter aus Fibeln, Lesebüchern und anderen Lernmitteln kopiert und so gegen das Urheberrechtsgesetz verstoßen hatte.  Derzeit läuft ein Zivilprozess gegen sie, in dem sie auf Schadensersatz verklagt wird.     

 

Die „Rechtschreibwerkstatt“ – eine aufwändige Methode mit schlechten Ergebnissen


Ungerecht gingen betroffene Eltern indes mit Lehrern/Lehrerinnen um, würden sie ihnen vorwerfen, das Konzept Sommer-Stumpenhorst brächte ihnen wesentliche Erleichterungen für den Unterricht ein. Das Gegenteil ist der Fall. Der organisatorische Aufwand schon im Vorfeld des Unterrichts wird als so immens beschrieben, dass man sich schon fragen muss: Lohnen sich angesichts der zu erwartenden Ergebnisse solche Anstrengungen? Und auch wenn die „Rechtschreibwerkstatt“ ein Selbstlernkonzept ist, nach dem sich alle Kinder das Lesen und Schreiben selber beibringen können sollen, wird kein(e) Lehrer(in) sich während der Unterrichtsstunde vor die Klasse setzen und Zeitung lesen können.

Selbstlernkonzepte – Erstklässler sollen sich selbst das Lesen und Schreiben beibringen können

In der Schweiz sind Selbstlernkonzepte für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe gerade mal erst in der Erprobung. In Deutschland haben findige Geschäftsleute jedoch schon seit langem die abenteuerlichsten Selbstlernkonzepte zuhauf in die Grundschulen lanciert.  Hierzulande sollen bereits Erstklässler mit Hilfe teilweise recht skurriler Materialien entdeckend, individualisiert, eigeninitiativ, selbststeuernd, selbstgesteuert und eigenverantwortlich ihren Lernzuwachs organisieren können. Ein Selbstlernkonzept zum Erlernen des Lesens und Schreibens in Eigenregie bietet übrigens auch Rüdiger Urbanek mit seinem Unterrichtswerk Tinto an. Die werbende Formulierung aus dem Cornelsen-Verlag dazu: „Grundlage der Materialien in der Lehrwerksreihe ist die Idee, dass Kinder sich den Weg in die Schriftsprache weitgehend selbstständig erarbeiten können.“  Wissenschaftlich untersucht sind die Leistungen dieser Methode jedoch bis jetzt noch nicht.  Eltern müssen schon ein bisschen auch selber darauf achten, ob ihre Kinder tatsächlich das lernen, was sie eigentlich lernen sollten (dazu mehr im übernächsten Elternbrief!). Aber wie man sieht: Es braucht heutzutage offenbar nur eine Idee und ein ausgeklügeltes Marketing, eine neue Unterrichtsmethode mit den dazugehörigen Unterrichtsmaterialien in die Schulen zu bringen. Für den Erfinder ist die Idee natürlich schon dann gut, wenn sie zu einträglichen Geschäften taugt (siehe dazu auch Professor Dollases Aufsatz unter > Pressestimmen!). 


J. Günter Jansen

 

P.S.: Ergänzende Informationen zu diesem Elternbrief finden sich unter > Anlagen und > Pressestimmen!