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(11/07)
'Neurodidaktik' als Mogelpackung
Neuro-Mythen machen Schule
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Hier soll nicht darauf eingegangen werden, dass Sommer-Stumpenhorst auch wieder einmal die 'Entwicklung' des Sprechens und Schreibens vergleichend gegenüberstellt, ungeachtet der Tatsache, dass das Erlernen des Sprechens weitestgehend ein implizites, das Erlernen des Schreibens ein explizites Lernen ist. Zu den Unterschieden beim Erlernen des Schreibens und Sprechens nur dies noch einmal: Prof. H. Andresen weist darauf hin, dass das Segmentieren sprachlicher Ketten ein bewusstes, geradezu analytisches Verhalten zu Sprache und zur eigenen Artikulation verlangt. Diese Prozedur sei ein Akt geistiger Erkenntnis, der Distanz zur eigenen Sprache voraussetzt. (Prof. Dr. Helga Andresen: Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewusstheit, Opladen 1985) In Übereinstimmung mit Prof. M. Dehn, Prof. G. Otto und Prof. H. W. Giese konkretisiert die Grundschuldidaktikerin Prof. Dr. S. Weinhold: "Die Abstraktheit der geschriebenen Sprache erfordert von den jungen Schreibern eine andere, willkürlichere und bewusstere Einstellung beim Schreiben als das Sprechen. Die geschriebene Sprache zwingt das Kind intellektueller zu handeln. Sie zwingt es, sich den Prozess des Sprechens selbst stärker bewusst zu machen. Im Unterschied zum automatischen Sprechen von Wörtern verlangt das Aufschreiben die bewusste Zergliederung von Äußerungen in ihre schreibrelevanten Bestandteile. Bei der Übertragung von gesprochener Sprache (oder Gedachtem) in Schrift muss das Kind sprachanalytisch tätig werden, d. h., es muss zunächst aus dem kontinuierlichen Signalstrom des Gesprochenen die Phoneme extrahieren und die graphematische Zuordnung leisten." (Prof. Dr. Swantje Weinhold [unter Mitarbeit von Prof. Dr. M. Dehn, Prof. Dr. G. Otto, Prof. Dr. H. W. Giese]: Text als Herausforderung, Freiburg i. Breisgau 2000) (Dazu auch die Elternbriefe Nr. 13 und Nr. 16!)
Auch daran sei noch einmal erinnert: Sprache im heutigen Sinn gibt es seit etwa 100.000 bis 150.000 Jahren, die Schrift gibt es erst seit etwa fünf- bis sechstausend Jahren. Während sich über einen langen Zeitraum hinweg im menschlichen Hirn bestimmte Dispositionen zum Erlernen des Sprechens herausbilden konnten, war dies für das Erlernen des Schreibens und Lesens in der kurzen Zeit von nur wenigen tausend Jahren natürlich nicht möglich. Es gab auch keinen Evolutionsdruck, der auf die Entwicklung der Fähigkeiten zu lesen oder zu schreiben im Hirn hingewirkt hätte. Die Hirnareale, die später (ab dem ausgehenden 19. Jhdt.) als Lesezentrum, Broca- und Wernicke-Areal bezeichnet wurden, waren schon vor mehr als 150.000 Jahren ausgebildet und werden erst seit einigen tausend Jahren für das Schreiben genutzt. Es ist folglich schon recht abwegig zu formulieren: "Und auch hier finden wir wieder drei grundlegende Bereiche (Lesezentrum, Broca- und Wernicke-Areal), die den grundlegenden Regelungen auf der Laut-, Wort- und Satzebene entsprechen*. Es ist aus neurophysiologischer* Sicht kein Zufall, dass es drei grundlegende Rechtschreibprinzipien gibt."
Sommer-Stumpenhorst und die 'neurophysiologische Sicht':
- Beim Schreiben sind "neben den Zentren für die motorische Steuerung drei weitere Areale beschäftigt": das Lesezentrum, das Wernicke- sowie das Broca-Areal.
- Das Lesezentrum, das Wernicke- sowie das Broca-Areal: drei Hirnareale, "die den grundlegenden Regelungen auf der Laut-, Wort- und Satzebene entsprechen: Es ist aus neurophysiologischer Sicht also kein Zufall, dass es drei Grundprinzipien in der Rechtschreibung gibt."
*Die Fett-Markierungen erfolgten d. d. Autor d. Homepage
Sommer-Stumpenhorsts Ausritt in die Neurophysiologie ist auch insofern völlig irreführend, als er bei seinen Einlassungen zu 'Lesezentrum, Broca- und Wernicke-Areal'
- für diese drei Regionen (mit Hilfe von Minimalbeschreibungen) gewisse Hirnaktivitäten beim Sprechen und Schreiben skizziert (s. oben unter 1 und 2),
- und darüber hinaus über das Vorhandensein dieser drei Hirnareale auch sein von ihm erfundenes dreigestuftes 'Ordnungssystem' der Rechtschreibung (mit jeweils 4 weiteren Entwicklungsstufen) als Grundlage für den gesamten Schreiblernprozess - von der Lautebene über die Wortebene zur Satzebene/Kontextebene** - zu definieren versucht (s. oben unter 1 und 2).
(S. auch Elternbrief Nr. 13!)
Insgesamt eine Akrobatik, die die Grenzen des noch Erträglichen weit hinter sich lässt! Es ist schon ziemlich abenteuerlich, ein dreistufiges 'Ordnungssystem' der Rechtschreibung mit insgesamt 12 Entwicklungsstufen sowie das daraus resultierende Spracherwerbskonzept aus dem Vorhandensein dreier Hirnareale (Lesezentrum, Broca- und Wernicke-Areal) ableiten zu wollen. Im übrigen wiesen schon im vorletzten Jahrhundert die unterschiedlichsten lautsynthetischen Verfahren für den Prozess des Erlernens von Schreiben und Lesen eine Stufung auf, die Sommer-Stumpenhorst für seine Entdeckung zu halten scheint: 1. Stufe der Lautgewinnung (bei Sommer-Stumpenhorst = Lautebene), 2. Stufe der Lautverschmelzung (bei Sommer-Stumpenhorst = Wortebene), 3. Stufe des zusammenfassenden Lesens (bei Sommer-Stumpenhorst = Satz-/Kontextebene). Allesamt bezogen sich diese Konzepte auf die Lautiermethode des Valentin Ickelsamer ( 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts). Und genau wie die seit etwa drei Jahrzehnten analytisch-synthetisch orientierten Fibelkonzepte schreitet Sommer-Stumpenhorst heute auch voran: von der Lautebene über die Wortebene zur Satzebene/Kontextebene. Nur geschieht dies eben bei der 'Rechtschreibwerkstatt' - wegen der theorie- und materialienbedingten Knebelung - kleinschrittiger und ohne größere Spielräume für wirkliche Individualisierung. Auf die tatsächliche individuelle Bedarfslage der Kinder - und somit weit über Sommer-Stumpenhorsts verhängnisvolle ausschließliche Kategorisierung in 'schnell lernende Kinder'/'langsam lernende Kinder' hinaus - kann ohne jeden Zweifel ein Fibelunterricht mit einer modernen Fibel dynamischer und gezielter reagieren: mit einer Fülle vielfältiger und passgenauer Arbeitsmaterialien, die ein(e) Lehrerin/Lehrer dann allerdings auch schon einmal selber herstellen muss.
Dass sich aus den Konstrukten Sommer-Stumpenhorsts selbstverständlich auch in keinerlei Hinsicht neurophysiologisch abgesicherte Schlüsse über das Lernen und die Lehre beim Schriftspracherwerb mit der Rechtschreibwerkstatt ziehen lassen, muss hier nicht weiter diskutiert werden. Immerhin ist es Sommer-Stumpenhorst in der Darstellung seiner fragwürdigen Theorie gelungen, irgendwie auch irgendetwas "aus neurophysiologischer* Sicht" unterzubringen.
*Die Fett-Markierung erfolgte d. d. Autor d. Homepage
In ihrem Buch "Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik" wird die junge Wissenschaftlerin Dr. Nicole Becker nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass bislang, wenn es um die Erforschung von Lehr-Lern-Prozessen geht, "weder eine Anwendung neurowissenschaftlicher Methoden im Klassenzimmer noch eine authentische Simulation von Lehrsituationen möglich" ist. So sieht es auch Prof. Dr. Elsbeth Stern (Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der TU Berlin, Forschungsleiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin): "Auf die Frage, wie Lerngelegenheiten gestaltet sein müssen, gibt die Gehirnforschung keine Antwort." Dr. Nicole Becker zitiert sie: "Es ist nicht möglich, existierende Lehr-Lern-Konzeptionen mithilfe neurowissenschaftlicher Methoden oder auch Theorien zu 'überprüfen', denn ob und unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte Unterrichtsmethode geeigneter ist als eine andere, kann weder durch Tierexperimente noch durch Messung der neuronalen Aktivität beim Menschen entschieden werden."
Unterschlagen werden darf in diesem Zusammenhang allerdings nicht, dass der weltweit anerkannte Grundlagenforscher der Neurowissenschaft, Prof. Dr. Dr. Onur Güntürkün (Universität Bochum) einer von vielen Hirnforschern ist, die bereits vor längerer Zeit zu der Erkenntnis beigetragen haben, dass das Lernen nach 'Lesen durch Schreiben' oder nach dem 'Spracherfahrungsansatz' falsch ist (wie u. a. auch Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer). Güntürkün lehrt, dass das prozedurale Gedächtnis alle automatisierten Handlungsabläufe "beherbergt" und somit deren Gedächtnis für geübte Fertigkeiten ist. Besonders bedeutsam in diesem Zusammenhang: Prozedurale Gedächtnisinhalte können ohne Beteiligung des Bewusstseins genutzt werden. Um Missverständnissen, die es durchaus gibt, vorzubeugen, unterstreicht er: "Es wäre falsch, das prozedurale Gedächtnis nur als einen Speicher für Handlungen anzusehen." Wenn Hirnforscher z. B. also herausfinden, dass Umlernen erheblich aufwändiger ist als das Erstlernen, hat das mit Didaktik zunächst einmal überhaupt nichts zu tun. Auf die Frage nach den Lernmethoden wird so in keiner Weise eine Antwort gegeben, wohl aber auf die Frage: Wie lernt man effektiv? - Das ist keineswegs eine fachdidaktische Frage.
Nicole Becker: "Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik" /Reihe Forschung (Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2006 - Preis: € 29,80 - Wegen der starken Nachfrage ist dieser Titel derzeit nur noch im 'printing on demand' Verfahren über den Buchhandel zu beziehen.) sollte zur Pflichtlektüre für all diejenigen Lehrerinnen/Lehrer werden, die genug haben von nicht haltbaren Heilsversprechungen und ständigen Innovationen und Reformen, die jeglicher seriöser wissenschaftlicher Begründung entbehren.
J. Günter Jansen