Erläuterungen 

 

Zur Wissenschaftlichkeit der von Falb, Deimel und Krämer vorgetragenen Sommer-Stumpenhorst-Thesen

 

 

 

Betrachten wir also die drei vorgetragenen Thesen genauer!

 

Sommer-Stumpenhorst-These 1, vorgetragen von Falb, Deimel, Krämer:

 

Es ist nicht nachvollziehbar, welche Art von Erkenntnis die Verfasser ihrer These transportieren wollen. Sprachwissenschaftler formulieren für die Entwicklungsstufen der Schriftsprache folgende vier Konzeptionen (hier in vereinfachter Darstellung):

 

Eisenberg  konstatiert, dass sich die Schrift von der logographischen über die Silben- bis hin zur alphabetischen Schrift entwickelt hat. (Peter Eisenberg: Der Buchstabe und die Silbenstruktur des Wortes. In: Duden Band 4., Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Mannheim 1995)

Die Anfänge der logographischen Schrift: Zunächst diente die Schrift ganz offenbar nicht der Kommunikation, sie war vielmehr eine Art Gedächtnisstütze bei der 'Buchführung'. Mit Kerben und Strichen wurden Mengenangaben für Gegenstände dargestellt, neben den Kerben wurde eine Zeichnung für das gemeinte Objekt eingeritzt, z. B. für Kühe und Schafe. Die sich daraus entwickelnden logographischen Schriften waren Schriften, deren kleinste bedeutungstragende Einheiten Wörter oder Morpheme waren. Die Schriftzeichen bezogen sich nicht auf kleinere sprachliche Einheiten, sondern trugen als Ganzes Bedeutung.

Im 2. Jahrtausend v. Chr. entwickelte sich in  der östlichen Mittelmeerregion eine Silbenschrift. Sie bestand aus etwa 100 Zeichen und wies in bezug  auf Schreiben und Lesen einen so hohen Schwierigkeitsgrad auf, dass sie nur schwer zugänglich war.

Um 1500 v. Chr. erfanden die semitischen Völker das erste Alphabet, das allerdings nur aus Konsonanten bestand. Die Griechen fügten später diesem Alphabet Vokalzeichen hinzu. Diese Alphabetschrift beruhte auf phonetisch-phonologischen Kriterien. (Christiane Maria Steinweger: Linguistische und kognitive Aspekte der Schwierigkeiten beim Schrifterwerb. Examensarbeit 1999; Utz Maas: Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen 1992)

Zu keiner Zeit waren die Schriften starre Systeme. Die Entwicklung von den 'Urschriften' zum Alphabetentum als Verschriftlichung der oralen Kommunikationsform, die sich über ca. 5000 Jahre hinzog, wurde durch kulturelle wie kognitive Einflüsse erreicht, die sich selbstverständlich wechselseitig bedingten.

 

Das bis in "die Ausnahmeschreibungen nachvollziehbare Ordnungssystem" Sommer- Stumpenhorsts, das sich in den   Entwicklungsstufen "bei der historischen Entwicklung der Schriftsprache" wiederfinden lassen soll - als Entwicklung von der Lautebene über die Wortebene zur Kontextebene, lässt sich indes auch nicht in der Entwicklung der deutschen Orthographie (seit etwa 800 n. Chr. /Mittelalter) entdecken. Um diese Zeit gab es vielfältige Versuche, den Dialekt des jeweiligen Schreibortes nach den lateinischen Schreibkonventionen möglichst phonemtreu abzubilden. Lautschrift im engeren Sinn wurde lediglich einmal - ansatzweise - versucht, durch Notker von St. Gallen (um 1000 n. Chr.). Es blieb bei lautorientierten Schreibungen, was u. a. auch daran lag, dass es für deutsche Phoneme im Lateinischen keine Entsprechungen gab. (Nach: Karl Stocker (Hrsg.): Taschenlexikon der Literatur- und Sprachdidaktik, Frankfurt/M, 1976)  

 

Bereits zu Beginn der deutschen Schriftgeschichte im 8. Jahrhundert war die Grammatikalisierung der Orthographie weit fortgeschritten, da sich die Schreiber der frühen deutschsprachigen Texte an den weitgehend grammatikalisierten lateinischen Schriften orientierten. (Doris Tophinke: Rechtschreiben, in: Günter Lange, Swantje Weinhold: Grundlagen der Deutschdidaktik, Baltmannsweiler 2006)  Nach dem Ausgang des Mittelalters setzten Grammatiker im Laufe der Zeit zahlreiche orthographische Änderungen durch, die aber keineswegs durchweg dem  morphematischen Prinzip zuzuordnen sind. (Nach: Karl Stocker (Hrsg.): Taschenlexikon der Literatur- und Sprachdidaktik, Frankfurt/M, 1976) Neben den Schreibungen nach dem morphematischen Prinzip seien insbesondere auch das historische Prinzip, das grammatikalische Prinzip, das semantische Prinzip und das ästhetische Prinzip zu nennen. Ein besonderes - bleibendes - Problem für die deutsche Rechtschreibung ist, dass das ältere phonematische Prinzip durch andere Prinzipien überformt ist, insbesondere durch das morphematische Prinzip. (Ch. Klicpera/B. Gasteiger Klicpera: Psychologie der Lese- und Schreibschwierigkeiten, Weinheim 1998) 

  

Von Syntax und syntaktischer Gliederung können wir übrigens schon seit der Zeit Karls des Großen (also um 800 n. Chr.) sprechen. Die Handschrift  von Otloh von St. Emmeram, einem der besten Kalligraphen seiner Zeit, gab verschiedene strukturelle Aspekte der Sprache schon sehr genau und systematisch durch Leerzeichen, Interpunktion und Buchstabenstruktur wieder. "Die Leerzeichen stehen bei Otloh fast immer dort, wo sie auch im modernen Schriftsystem zu finden sind: zwischen Wörtern. Die Interpunktion übernimmt bereits die Funktion der syntaktischen Gliederung, formal jedoch sind die Interpunktionszeichen jedoch noch nicht ausdifferenziert. Es wird nur ein auf der virtuellen Mittellinie liegender Punkt verwendet. Er übernimmt zwei Funktionen: Das Schließen von Sätzen und die Abgrenzung kleinerer syntaktischer Einheiten. Dem satzschließenden Punkt folgt stets ein Großbuchstabe, dem satzgliedernden ein Kleinbuchstabe." (Internetbeitrag von Prof. Ursula Bredel & Prof. Beatrice Primus, Universität zu Köln 2007)

 

Im Jahre 1902 wurde nach vielen Anläufen die deutsche Orthographie für den gesamten deutschen Sprachraum verbindlich geregelt. 

 

Indes bleibt diese These noch immer rätselhaft: Das Rechtschreibkonzept Sommer- Stumpenhorsts veranschaulicht die Rechtschreibung als ein bis in die Ausnahmeschreibungen nachvollziehbares Ordnungssystem, das sich nach denselben Entwicklungsstufen aufbaut, die sich auch bei der historischen Entwicklung der Schriftsprache wiederfinden lassen: - als Entwicklung von der Lautebene über die Wortebene zur Kontextebene. Die Geschichte der Entwicklung der deutschen Schriftsprache nahm, wie gezeigt, nicht den Verlauf, wie Sommer-Stumpenhorst et al. ihn lieber gehabt hätten: Seit dem 8. Jahrhundert n. Chr.,  dem Beginn der deutschen Schriftgeschichte, verlaufen die Bestrebungen zur Regelung/Optimierung der lautorientierten Schreibung, zur Beachtung von  syntaktischer Gliederung/syntaktischer Regeln sowie die Grammatikalisierung der Orthographie parallel zueinander - bis in die jüngste Zeit (Rechtschreibreform).  

Sommer-Stumpenhorst-These 2, vorgetragen von Falb, Deimel, Krämer:

 

Auch diese These folgt (nahezu) dem Original-Ton Sommer-Stumpenhorsts. Dazu noch einmal ein Rückgriff auf Elternbrief Nr. 13:

 

Ganz offenbar ohne sprachwissenschaftliche und neurophysiologische Absicherung ignoriert  Sommer-Stumpenhorst schlichtweg, "dass die mündliche Sprache und die Schriftsprache zwei verschiedene Sprachsysteme sind." (Habilitandin Dr. Angela Enders: Weg mit der Schrift - Über die Dominanz der gesprochenen Sprache, Radiovortrag im SWR 2, 2006 ) Prof. Enders dazu: „In einer populären, aber laienhaften Auffassung erscheint die Schriftsprache häufig nur als eine Fixierung des mündlich Gesprochenen, das bei seiner Niederschrift einem leichten Reinigungsprozess unterzogen wird. Die Linguisten wissen aber, dass die Schriftsprache ganz anderen Regeln folgt als die mündliche Sprache. Die Schrift ist nämlich ein eigenständiges Sprachsystem; ihre Grammatik, ihre Semantik und ihre Pragmatik, ihre Regeln also, die Bedeutung der Wörter und ihre Anwendung folgen anderen Gesetzen als die mündliche Sprache.“ (ebd.) Das Sprechenlernen und das Schreibenlernen hinsichtlich der Schwierigkeiten miteinander vergleichen zu wollen, ist also ein ziemlich unsinniges  Ansinnen. Auch Prof. Ossner weist immer wieder auf solche hartnäckigen Stereotypen hin: „Schreiben ist nicht nur medial anders als Sprechen, sondern auch konzeptionell. Während die Lautsprache das Ohr anspricht, also einen Sinn, der linear-sequentiell ausgelegt ist, spricht die Schrift das Auge an, also einen Sinn, mit dem wir vieles simultan erfassen können. Lautsprache braucht die Artikulationswerkzeuge zu ihrer Produktion, Schrift die Hand, die ein Werkzeug führt, mit dem geschrieben wird (Stift oder heute ein technisches Medium wie Schreibmaschine oder Computer mit einer Textverarbeitung).“ (Prof. Dr. Jakob Ossner: Sprachdidaktik Deutsch, Paderborn 2006) Eine andere Ebene beleuchten die Professorinnen Dr. I. Füssenich und Dr. C. Löffler: „Der Schriftspracherwerb stellt erhebliche Anforderungen an die sprachlich-kognitiven Fähigkeiten der Kinder. Sie müssen sich von den subjektiv erlebnisbezogenen Vorstellungen von Sprache lösen und ihre Aufmerksamkeit auf formale Aspekte von Sprache lenken und ... .“ (Prof. Dr. Iris Füssenich/Prof. Dr.Cordula Löffler: Schriftspracherwerb, München 2005) Auch Prof. H. Andresen gibt zu bedenken, dass das Segmentieren sprachlicher Ketten ein bewusstes, geradezu analytisches Verhalten zu Sprache und zur eigenen Artikulation verlangt. Diese Prozedur sei ein Akt geistiger Erkenntnis, der Distanz zur eigenen Sprache voraussetzt. (Prof. Dr. Helga Andresen: Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewusstheit, Opladen 1985) In Übereinstimmung mit Prof. M. Dehn, Prof.  G. Otto und Prof. H. W. Giese konkretisiert die Grundschuldidaktikerin Prof. Dr. S. Weinhold: "Die Abstraktheit der geschriebenen Sprache erfordert von den jungen Schreibern eine andere, willkürlichere und bewusstere Einstellung beim Schreiben als das Sprechen. Die geschriebene Sprache zwingt das Kind intellektueller zu handeln. Sie zwingt es, sich den Prozess des Sprechens selbst stärker bewusst zu machen. Im Unterschied zum automatischen Sprechen von Wörtern verlangt das Aufschreiben die bewusste Zergliederung von Äußerungen in ihre schreibrelevanten Bestandteile. Bei der Übertragung von gesprochener Sprache (oder Gedachtem) in Schrift muss das Kind sprachanalytisch tätig werden, d. h., es muss zunächst aus dem kontinuierlichen Signalstrom des Gesprochenen die Phoneme extrahieren und die graphematische Zuordnung leisten." (Prof. Dr. Swantje Weinhold [unter Mitarbeit von Prof. Dr. M. Dehn, Prof. Dr. G. Otto, Prof. Dr. H. W. Giese]: Text als Herausforderung, Freiburg i. Breisgau 2000)     

 

Während Vorschulkinder die zum mündlichen Sprachgebrauch notwendigen sprachlichen Regeln, z. B. zur Satzkonstruktion, ohne jegliche Mühe unbewusst, also implizit, erworben haben,  müssen sie sich die Regeln zur Verschriftung, also auch die der Orthographie, jetzt mit Anstrengungsbereitschaft und mancher Anstrengung explizit aneignen. Der Prozess trägt zurecht die Bezeichnung ’Schriftspracherwerb’ und ist keineswegs zu vergleichen mit einer naturwüchsigen Entwicklung, die Lehrerinnen und Eltern nur einfach abzuwarten hätten. 

 

Der Schriftspracherwerb aller Kinder mit entsprechender günstiger Lernumgebung (Elternhaus, Kindergarten, Schule) verläuft in Stufen, die sich einerseits aus der kindlichen Entwicklung ergeben, andrerseits aber auch aus didaktischen Überlegungen heraus definiert werden. Schon seit Jahrzehnten orientiert sich der Unterricht in Grundschulen an solchen sog. "neuen" Einsichten (die bis vor ca. 20 Jahren allerdings noch weniger elegant formuliert waren), lange Zeit also bevor Sommer-Stumpenhorst sein eigenes Ordnungssystem erfand, das jedoch mit den von der Wissenschaft her bekannten Phasen- bzw. Stufenmodellen des Schrifterwerbs  nicht vergleichbar ist.

Stark verkürzte Darstellung der einzelnen Stufen (nach Prof. Peter May, Universität Hamburg): 

  1.      logographische Stufe (etwa Kindergartenalter): Kinder bekommen eine Ahnung von der Phonem-Graphem-Korrespondenz, der Beziehung zwischen Lauten und Zeichen/Buchstaben. Sie lernen – sich anbahnend – Zeichen zu unterscheiden und dass sich Wörter  bezüglich Anzahl der Buchstaben und der Buchstabenfolgen unterscheiden.

  2.      alphabetische Stufe (Beginn der Schulzeit bis etwa Ende der ersten Klasse): Sie lernen, den Lautstrom aufzuschließen und mit Hilfe von Buchstaben und Buchstabenfolgen schriftlich festzuhalten. (Die Lösungsstrategien dieser Stufe werden aber auch später nicht aufgegeben.)

  3.      orthographische Strategie: Sie haben die Fähigkeit, mit einfachen Laut-Buchstabenzuordnungen unter Beachtung bestimmter  orthographischer Regeln und Prinzipien zu operieren.  Auf dieser Stufe werden die Kinder sowohl bereits mit „Lernwörtern“ befasst, mit Wörtern, die z. B. nicht lautgerecht verschriftet werden,  als auch mit Regelelementen, z. B. „auf Kurzvokal folgen zwei Konsonanten“ .

  4.      morphematische Strategie: Kinder haben die Fähigkeit, Wörter zu zerlegen, auf den Wortstamm zurückzuführen, abzuleiten etc. . Sie erhalten daraus Hinweise über die Richtigkeit ihrer Schreibung und Regeln für die Konstruktion weiterer Wörter.

  5.       Wortübergreifende Strategie: Die Kinder lernen weiterführende Aspekte der Rechtschreibung kennen: Verwendung der Satzarten, Satzgrammatik für die Kommasetzung, dass-Schreibung, Zusammen-/Getrenntschreibung etc.

 

Der große und zugleich verhängnisvolle Irrtum bei Sommer-Stumpenhorst: Er betrachtet den Verlauf von Entwicklungsphasen als eine streng sequentielle Abfolge, also auf Stufe 1 folgt Stufe 2, auf Stufe 2 folgt Stufe 3, etc.. Dieser falschen Theorie folgt auch der Aufbau seiner Materialien. Was übrigens dazu führt, dass - bis auf Ausnahmen - Kinder, die mit 'Lesen durch Schreiben' ( u. a. mit der Methode Sommer-Stumpenhorst) in den Schriftspracherwerb geführt werden, langsamer lernen bzw. beim Lernen künstlich zurückgehalten werden: Das ist eher das Gegenteil von Individualisierung. (Siehe unten: Was  die Kinder  der Lollipop-Klassen/der Sommer-Stumpenhorst-Klassen nach zwei Schuljahren können sollen). Längst gibt es Studien darüber, die besagen, dass Kinder sich in der Regel auf verschiedenen Stufen gleichzeitig befinden.  

 

"Das Rechtschreibkonzept Sommer-Stumpenhorsts veranschaulicht die Rechtschreibung als ein bis in die Ausnahmeschreibungen nachvollziehbares Ordnungssystem, ......  - Immer geht die Entwicklung von der Lautebene über die Wortebene zur Kontextebene voran." Das ist aber keineswegs eine  Entdeckung von  Sommer-Stumpenhorst! In Deutschland wird seit Jahrzehnten schon nicht mehr nach der Ganzheitsmethode unterrichtet, und niemals hat es in Deutschland für den Anfangsunterricht Konzepte gegeben, die für den Schriftspracherwerb etwa den unsinnigen Weg vorgeschlagen hätten, von der 'Kontextebene' über die 'Wortebene' zur ' Lautebene' fortzuschreiten. Beim Schriftspracherwerb den Weg von der 'Lautebene' über die 'Wortebene' zur 'Kontextebene'  zu gehen,  ist eine didaktisch-methodische Entscheidung Sommer-Stumpenhorsts, die sich an einem von ihm konstruierten Ordnungssystem, also an seinen Vorstellungen von der "Ordnung von Rechtschreibung" orientiert. Ganz offensichtlich setzt Sommer-Stumpenhorst mit seiner Methode nicht am natürlichen Sprachwissen der Kinder an, sein Konzept wird vielmehr gesteuert von seinen Vorstellungen von der "Ordnung von Rechtschreibung", von einer von ihm selbst modellierten Sachstruktur: Allein danach haben sich die Kinder auf ihrem Weg in die Schriftsprache strikt zu richten: Es ist nicht zu erkennen, an welcher Stelle Sommer-Stumpenhorst wirklich von den Kindern ausgeht. 

 

Neuere Konzepte der Schriftspracherwerbsdidaktik  gehen heute von der silbenanalytischen Methode aus, die sich am natürlichen Sprachwissen der Kinder orientieren.

 

Die Argumentation:

 

Sommer-Stumpenhorst-These 3, vorgetragen von Falb, Deimel, Krämer:

 

Fachwissenschaftlich weniger  orientierte LehrerInnen horchen  ehrfurchtsvoll und mit glänzenden Augen auf, wenn  neue Unterrichtskonzepte auf die Neurophysiologie oder auf andere Disziplinen der Neurowissenschaften verweisen. Dr. Nicole Becker, eine junge Forscherin (Jg. 1975) mit Tätigkeit in der Abteilung 'Allgemeine Pädagogik' an der Eberhard Karls Universität Tübingen, fokussiert in ihrer vielbeachteten Untersuchung "Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik" (Verlag Julius Klinhardt, Bad Heilbrunn 2006) die derzeit in der Pädagogik reichlich sprießenden "Neuro-Mythen" (Zitat) um das sog. "hirngerechte" Lernen und entlarvt dabei die sogenannte "Neurodidaktik" als Mogelpackung, die ganz sicher auch als Folge der in den Grundschulen fehlenden Wissenschaftsorientierung eine Verbreitung in der Art einer vegetativen Wucherung auslösen konnte. Prof. Dr. Renate Valtin dazu schon vor Jahren: "Auf der Ebene der grundschulpädagogischen Diskurse tauchen Ergebnisse empirischer Forschung nur in Spurenelementen auf. Auch auf der Ebene der Praxis spielt die Empirie keine entscheidende Rolle .....: alle wichtigen grundschulpädagogischen Entscheidungen (4- oder 6jährige Grundschuldauer, Einschulungsalter, Forderung nach offenem Unterricht und Freiarbeit) sind ohne empirisch abgesicherte Grundlagen getroffen worden."

 

Mit der von Falb/Deimel/Krämer vorgetragenen These könnte sich jemand vor Psychologie-Studenten bereits des ersten Semesters einen lautstarken Lacherfolg sichern. Bei Sommer-Stumpenhorst finden wir, worauf sich Falb, Deimel und Krämer beziehen:

 

"Auch bei der Analyse der neurophysiologischen Abläufe beim Schreiben finden wir wieder drei grundlegende Bereiche (Lesezentrum, Broca und Wernickesche Areal), die den grundlegenden Regelungen (auf der Laut-, Wort- und Satzebene) entsprechen." Dazu zeigt Sommer-Stumpenhorst per Graphik eine Verdeutlichung:

 

 

Sommer-Stumpenhorst dazu weiter erklärend: "Es ist aus neurophysiologischer Sicht kein Zufall, dass es drei grundlegende Rechtschreibprinzipien gibt. Es liegt in der Natur der beteiligten Hirnfunktionen, dass unser Schreiben nach drei verschiedenen Prinzipien gesteuert wird und sich drei unterschiedliche Regelungsgruppen entwickelt haben."

 

"Es liegt in der Natur der beteiligten Hirnfunktionen ....."! In diesem Zusammenhang erweist es sich als zwingend notwendig, noch einmal auf Elternbrief Nr. 13 zurückzugreifen:

 

Von Natur aus  ist der Mensch nicht einmal  mit Sprechorganen zum Erlernen des Sprechens ausgestattet. Der Phonologe Prof. Dr. Utz Maas, wohl der renommierteste deutsche Vertreter dieser Fachwissenschaft, weiß, wie die Spezies Mensch diesen Mangel überwand: „Der physiologische Apparat ist phylogenetisch zu anderen, für unsere Lebenspraxis grundlegenderen Zwecken entwickelt worden als den sprachlichen (man kann ohne Sprache überleben, nicht aber ohne die Funktion des Apparates). Wir haben also keine 'Sprechorgane', sondern wir nutzen für sprachliche Zwecke Organe, die ihre spezifische Form und Funktionspotentiale in der Anpassung an andere Funktionen erhalten haben.“ (Prof. Dr. Utz Maas: Phonologie, Göttingen 2006) Beim Einsatz dieser Organe entstehen Geräusche wie Schmatzen, Rülpsen, Zähneknirschen und -klappern, Gähnen, Stöhnen etc., von denen einige genutzt werden, um damit Sprachlaute zu erzeugen. Prof. Dr. Utz Maas: „Bei der Nutzung des Apparates für die Lautproduktion handelt es sich also um einen Filter gegenüber der breiten Palette von Geräuschmöglichkeiten, der zugleich auch ein Filter für die dabei benutzten Organe ist. Dieser Filter ist selbst wiederum eine kulturelle Leistung, keine physiologische Notwendigkeit." Nach Prof. Dr. Utz Maas besteht daher auch die Möglichkeit, nach gravierenden Operationen z. B. „gewissermaßen kompensatorisch andere als die 'Standardorgane' für die Sprechproduktion zu nutzen." Für die Ohren als 'Hörorgan' gilt Ähnliches. Diese organische Ausstattung dient phylogenetisch und (auch jetzt noch) funktional ganz anderen Zwecken als ausgerechnet dem 'Empfang' von mündlichen Sprachäußerungen: nämlich der räumlichen Orientierung und der Kontrolle des Gleichgewichts. Auf solche Nutzungserweiterungen bzw. -veränderungen treffen wir auch in etlichen Hirnregionen.     

 

Sprache im heutigen Sinn gibt es seit etwa 100.000 bis 150.000 Jahren. Schon vor dieser Zeit muss es also beim Menschen hirnanatomische Entwicklungen gegeben haben, die im Hirn zu bestimmten Dispositionen führten, das  Sprechen (und damit Sprachen) lernen zu können. Die kulturelle Evolution hat vielfältig die Spezies Mensch gezwungen, auch bestimmte Bereiche des Gehirns für Aufgaben zu benutzen, für die sie von der Natur nie vorgesehen waren/Beispiele: 

 

 

Jedes Wissen und Können beruht auf dem Zusammenspiel vieler Areale des Gehirns. Im menschlichen Hirn sind viele Hirnregionen - mehrheitlich über die linke Hirnhälfte verteilt - angelegt, das erworbene Wissen und Können um Sprechen und  Sprache abzuspeichern. Zum Sprechen werden diese Regionen parallel in Millisekunden-Schnelle zur anteiligen Wahrnehmung ihrer lexikalischen, grammatischen und sprechmotorischen Aufgaben aktiviert. Dazu müssen natürlich die Abrufprozesse automatisiert sein.

 

Das erworbene Wissen und Können um Sprechen und  Sprache allein in Wernickes Areal mit seinen lexikalischen  und in Brocas Areal mit seinen grammatischen Beständen verorten zu wollen (Sommer-Stumpenhorst nennt als drittes noch das Lesezentrum), wäre aber sicherlich falsch, denn dabei würde offenbar vergessen, dass Sprache eine hochkomplexe Fähigkeit ist, die sich von  lexikalischen und grammatischen bis hin zu sprechmotorischen, pragmalinguistischen, stilistischen, affektiven und vielen weiteren Aspekten von Sprache erstreckt. "Bekannt ist zum Beispiel, dass melodische Aspekte der Sprache in der Regel in der rechten Hirnhälfte 'verwaltet' werden. Sie speichert auch die mit episodischen Erinnerungen und persönlichen Bewertungen verknüpften Aspekte von Sprachelementen. Der Spracherwerb wie auch der Sprachgebrauch sind außerdem nicht ohne das Mitwirken von nur motivationspsychologisch zu erklärenden affektiven Faktoren zu verstehen. Die aber haben ihren Ursprung in limbischen Regionen, die außerhalb von Wernickes und Brocas Areal liegen." (Prof. Dr. Uwe Multhaup: Hirnareale und ihre Funktionen, Internetveröffentlichung 2002) Im Übrigen: Auch die frühere Vorstellung, es existiere nur  ein Lesezentrum, ist heute nicht mehr haltbar. Wissenschaftler wie Shaywitz/Shaywitz sprechen seit längerem von vielen, mindestens 17 verschiedenen Regionen, die allein beim Lesen wechselseitig beteiligt sind. ( Shaywitz, B. A. und Shaywitz, S. E. et al.  in: Sex differences in the functional organization of the brain for language. Nature 373, 1995) 

 

.....

 

Sprache im heutigen Sinn gibt es seit etwa 100.000 bis 150.000 Jahren, die Schrift gibt es erst seit etwa fünf- bis sechstausend Jahren. Während sich über einen langen Zeitraum hinweg im menschlichen Hirn bestimmte Dispositionen zum Erlernen des Sprechens herausbilden konnten, war dies für das Erlernen des Schreibens und Lesens in der kurzen Zeit von nur wenigen tausend Jahren natürlich nicht möglich. Es gab auch keinen Evolutionsdruck, der auf die Entwicklung der Fähigkeiten zu lesen oder zu schreiben im Hirn hingewirkt hätte. Über die Folgen lassen wir an dieser Stelle den Neurobiologen und Psychiater Prof. Manfred Spitzer zu Wort kommen: „Unser Gehirn ist für das Lesen nicht gebaut. Es entstand lange vor der Erfindung der Schrift und aufgrund von Lebensbedingungen, die mit den heutigen wenig gemeinsam haben. Eines zeichnete diese Lebensbedingungen ganz gewiss nicht aus: Schrift auf Schritt und Tritt. Wer liest, der missbraucht also zunächst einmal seinen Wahrnehmungsapparat für eine nicht artgerechte Tätigkeit, etwa wie ein Fliesenleger seine Knie missbraucht, um in Bädern herumzukriechen oder wie ein Tennisspieler, der seinem Ellenbogen das Aufnehmen von mehr Kräften zumutet, als dieser verkraften kann. Noch einmal anders ausgedrückt: Das Gehirn verhält sich zum Lesen wie ein Traktor zum Formel -1-Rennen, für dessen Tuning man kurz vor dem Rennen zwei Stunden Zeit bekommt.“ Dass nach tausenden Stunden des Übens Menschen tatsächlich lesen können, ist für Spitzer ein wichtiger Beweis: Das menschliche Hirn "kann Tätigkeiten lernen, die ihm nicht in die Wiege gelegt sind." (Prof. Dr. Manfred Spitzer: Lernen, Heidelberg-Berlin 2002) Alles bezüglich des Lesens Gesagte gilt natürlich erst recht auch für das Schreiben: Beides, Lesen und Schreiben, sind eigentlich unnatürliche Handlungen. Und auch hier gilt: Mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens  benutzt der Mensch bestimmte Bereiche des Gehirns für Aufgaben, für die sie von der Natur nicht vorgesehen waren. Bei   Sommer-Stumpenhorst heißt es: 'Es liegt in der Natur der beteiligten Hirnfunktionen, dass unser Schreiben nach drei verschiedenen Prinzipien gesteuert wird.'