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(07/07)
Klassen mit mehr als 25 Kindern
„eine unverantwortliche Form der Vernachlässigung der Kinder durch die Politik in diesem Land“
(Prof. Dr. Jörg Ramseger)
Wenn um Klassengrößen an Grundschulen gestritten wird, und das geschieht regelmäßig zu Beginn eines neuen Schuljahrs, sind die Fronten klar:
auf der einen Seite die von den Finanzministerien gesteuerte Schulpolitik,
auf der anderen Seite die Eltern und Lehrerinnen/Lehrer.
I.
Über die Zukunft unserer Kinder bestimmt die
Kassenlage
Wie Politiker die Zukunft unseres Landes ruinieren
"§ 93 Personalkosten, Unterrichtsbedarf
(1) Die Personalkosten bestimmen sich nach den Vorschriften des Landeshaushaltsrechts. Zu den Personalkosten gehören auch die Kosten für Fortbildung sowie die hierfür erforderlichen Reisekosten.
(2) Durch Rechtsverordnung, die der Zustimmung der für Schulen und für Haushalt und Finanzen zuständigen Landtagsausschüsse bedarf, regelt das Ministerium im Einvernehmen mit dem Finanzministerium das Verfahren für die Ermittlung der Zahl der Lehrerstellen und bestimmt nach den pädagogischen und verwaltungsmäßigen Bedürfnissen der einzelnen Schulformen, Schulstufen und Klassen
die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden der Schülerinnen und Schüler,
die Zahl der wöchentlichen Pflichtstunden der Lehrerinnen und Lehrer,
die Klassengrößen,
die Zahl der Schülerinnen und Schüler je Lehrerstelle,
die Zahl der Lehrerstellen, die den Schulen zusätzlich für den Unterrichtsmehrbedarf und den Ausgleichsbedarf zugewiesen werden können,
den Stichtag für die Ermittlung der Schüler- und Klassenzahlen.
(3) Die Relation der Zahl der Schülerinnen und Schüler je Lehrerstelle sowie die Zahl der Lehrerstellen, die den Schulen zusätzlich für den Unterrichtsmehrbedarf und den Ausgleichsbedarf zugewiesen werden können, sind jeweils für ein Schuljahr zu bestimmen."
Von daher versteht sich auch, dass im Schulgesetz des Landes NRW - wie früher üblich - keine verbindlichen Obergrenzen für Klassengrößen genannt werden. Die Kassenlage bestimmt darüber - jeweils für ein Schuljahr. Die Neufassung des Schulgesetzes des Landes NRW vom 27. Juni 2006 enttarnt die Sonntagsreden um das hohe Gut der Bildung, um Bildungsqualität und Qualitätssicherung als hohles Geschwätz.
Die Sieger bei PISA gehen anders mit ihren Kindern um, wie z. B. Finnland: Die Klassengröße darf 25 Kinder nicht überschreiten. In Klassen mit über 20 Kindern wird zusätzlich eine Assistentin eingesetzt. Lernschwache Kinder werden vorübergehend getrennt von der Klasse in Einzelunterricht oder in Kleingruppen (mit bis zu vier Schülern) von fest angestellten Speziallehrern/-lehrerinnen mit fundierten diagnostischen und therapeutischen Kompetenzen unterrichtet. Schulklassen in Südtirol, die bei PISA II noch besser abschnitten als Finnland, dürfen auch mit nur 9 Schülern weitergeführt werden. Für die Länder NRW und Hessen steht seit PISA II (2003) und der IGLU-Grundschulstudie (2001) fest:
Im
Testbereich „Lesen“ ist NRW als einziges Bundesland noch mehr zurückgefallen
und jetzt weit unter internationalem und bundesdeutschem Durchschnitt
gelandet.
In
Deutschland gibt es Tausende von Grundschulklassen mit mehr als 25 Kindern, in
Nordrhein-Westfalen sogar mehrere hundert Grundschulklassen mit (auch
deutlich) mehr als 30 Kindern. Wenn in Nordrhein-Westfalen die Klassengrößen
der einzelnen Schulformen diskutiert werden, weichen verantwortliche
Schulpolitiker regelmäßig in nicht nachgefragte Schwatzhaftigkeiten jenseits
von Realität und Wahrheit aus. Zwar werden sie nicht müde, immer wieder auf
die PISA-Sieger als Vorbilder zu verweisen, sind aber blind für die Tatsache,
dass mit einem Lehrer-Schüler-Verhältnis von 1:24 im Grundschulbereich
(das hat nichts mit der Klassengröße zu tun) Deutschland
das Schlusslicht sämtlicher OECD-Länder bildet: Der Durchschnitt liegt
bei 1:15. Das heißt: In Nordrhein-Westfalen stehen einer Schule mit 240 Kindern
10 Lehrer zu, dem OECD-Durchschnitt zufolge wäre mit mindetens 16 Lehrern zu rechnen. (Je
nach Datum der Veröffentlichung und Quelle weichen die Zahlen leicht
voneinander ab.) Laut einer OECD-Studie aus
dem Jahre 2006 liegt die Durchschnittsschülerzahl je Klasse im
Primarbereich in den OECD-Ländern bei 21,4 Schülern. Mit der demographischen Entwicklung in
Deutschland wird auch die Entwicklung zur größeren Schulklasse hin fortschreiten,
zunächst in ländlichen Regionen, bald wird sie jedoch auch die großen Städte
erreicht haben. Schon jetzt lässt sich beobachten, dass zu jedem
Schuljahresende die Schließung von Grundschulen zunimmt und mit den
betroffenen Kindern die Klassen der verbleibenden Schulen aufgefüllt
werden: weniger Grundschulen also – mit noch größeren Klassen. Übrigens:
Wenn in Statistiken zu den Klassengrößen in Grundschulen für das Jahr 1975
als durchschnittliche Schülerzahl 34 , für das Jahr 2000 die Zahl 22,4
genannt wird, lässt sich daraus nur folgern, dass die Schulpolitik mit den
Jahren stetig dazugelernt hat, wie Statistiken zielführender aufzubereiten und
zu verwerten sind.
II.
Von Elternrecht kann keine Rede sein
Um für ihre Schulneulinge einer drohenden Klassengröße von über 30 Kindern rechtzeitig vorzubeugen, wandte sich neulich in einem Flächenkreis des Landes NRW eine Elterndelegation an das zuständige Schulamt. Wohl hatten sie geahnt, dass sie dort mit substanzlosen Phrasen abgespeist werden könnten. Sie hatten jedoch nicht damit rechnen können, dass sie dort eine Antwort bekommen würden, die sie in die Rolle schwachköpfiger Bittsteller drängte: Sie sollten in der Gewissheit nach Hause gehen, dass Unterricht in Klassen mit über 30 Kindern für jeden Lehrer eine besondere Herausforderung sei und von daher erst wirklich effektiv und gut sein könne. Ein ähnlich törichtes Argument für große Klassen hatte es vor Jahren an der gleichen Stelle schon einmal gegeben: Kinder in kleinen Klassen seien ständig überfordert, in großen Klassen dagegen sei es ihnen möglich, sich auch schon einmal zu verstecken, abzuschalten also, um sich eine kreative Ruhephase zu gönnen. Auch damals waren die Eltern nicht geneigt, sich dieses dummschwätzige Argument zu eigen zu machen, sondern reagierten betroffen und fühlten sich in ihrer Würde verletzt. Und genau so war es auch jetzt.
Dabei führen Eltern und gute Lehrerinnen/Lehrer gute Gründe ins Feld, wenn sie in einer Zeit, in der die Zahl der Problemkinder in der Grundschule ständig steigt, kleinere Klassen für ihre Kinder fordern:
Die Störungen im Unterricht, u. a. durch Disziplinprobleme, gehen zurück, die Kinder können sich besser konzentrieren.
Die Kinder beteiligen sich häufiger aktiv am Unterricht, 'stille' Kinder verlieren in einer kleineren Gruppe eher ihre Hemmungen.
Die Leistungen, besonders in den Fächern Lesen, Schreiben und Mathematik, sind besser, wovon besonders benachteiligte Kinder profitieren.
Die Kinder werden besser auf den Besuch einer weiterführenden Schule vorbereitet.
Zunehmend wird Individualisierung gefordert: In kleinen Klassen hat eine Lehrerin mehr Zeit für jedes Kind. Immerhin verbleiben rechnerisch in einem ersten Schuljahr mit 33 Kindern in einer 45-Minuten-Unterrichtsstunde gerade 1 Minute und 22 Sekunden zur individuellen Betreuung. Die tatsächlich verfügbare individuelle Betreuungszeit pro Kind in einer 1. Klasse liegt jedoch noch darunter: Bekanntermaßen ist der Unterricht gerade in ersten Klassen besonders störanfällig, wofür aber in der Regel nicht Disziplinschwierigkeiten ausschlaggebend sind.
III.
Studien zum Thema Klassengröße
Kleine Klassen in der Grundschule sind von entscheidender Bedeutung
III.1 Deutsche Unterrichtsforschung:
international nicht konkurrenzfähig
Auch wenn es um die Klassengröße geht, vernachlässigt kein anderes europäisches Land seine Kinder so sehr wie Deutschland. Deutsche Bildungs-/Schulpolitiker sind aus naheliegenden Gründen nicht einmal daran interessiert zu erfahren, wie sich die Klassengröße an Grundschulen auf das Leistungsverhalten von Kindern auswirkt: Es gibt in Deutschland - im Gegensatz zum europäischen und außereuropäischen Ausland - nicht eine einzige Studie, die sich explizit und zielstrebig mit einer solchen Fragestellung auseinandergesetzt hätte. Es ist zu befürchten, dass sich die von der Politik abhängige Wissenschaft mit dieser Frage auch gar nicht gerne befassen mag: Untersuchungen, die dann zwingend einen Handlungsbedarf in Richtung kleinerer Klassen nahe legen würden, könnten die Kosten für die schulische Bildung in die Höhe schnellen lassen.
Wenn es um die Klassengröße geht, stehen sich in Deutschland auf der einen Seite die Eltern und Lehrer/Lehrerinnen, auf der anderen die Schulpolitik ziemlich unversöhnlich gegenüber. Die Schulpolitik muss aber darüber hinaus eine gewichtige Gegnerschaft aushalten: Während Eltern und Lehrer/Lehrerinnen in der Regel vorwiegend auf der Ebene plausibler theoriegeleiteter Annahmen argumentieren, können Unterrichtsforscher außerhalb Deutschlands mit harten Fakten aufwarten, die belegen, dass in Klassen unter 20 Kindern gerade Primarstufenkinder eindeutig zu besseren Lernerfolgen kommen, und dies am deutlichsten lernschwächere Kinder und solche aus sozial benachteiligten, unterprivilegierten Familien.
Die Ursache für das mangelnde Interesse an Untersuchungen zur Klassengröße mag auch in der über Jahrzehnte währenden deutschen Bildungsüberheblichkeit zu suchen sein ('Wir Deutschen sind ohnehin die Besten!'). Eine von vielen Folgen daraus ist, dass die empirische Forschungskompetenz in der deutschen Erziehungswissenschaft stark unterentwickelt ist. Bei unabhängigen Erziehungswissenschaftlern gibt es allerdings auch keinen Zweifel daran, dass Schulversuche inzwischen keine Erkenntnisinstrumente der Wissenschaft mehr sind, sondern Machthebel der Politik. Daher wird in Deutschland über Bildung auch vornehmlich auf der politischen Ebene diskutiert. Schulversuche sind heute nicht viel mehr als "weisungsabhängige Auftragsforschung" und dienen der Durchsetzung bildungspolischer Zielvorstellungen. (1) Prof. Dr. J. Brenner von der Universität Köln beklagt, dass sich in den letzten Jahren in Deutschland eine "weiche Evaluationskultur" entwickelt habe, "für die die strengen Regeln epistemischer Rationalität nicht oder nur einschränkend geltend gemacht werden." Es mag auch Resignation darin mitschwingen, wenn er fortfährt: "Deshalb haben Schulversuche gegenüber traditionellen Formen des Experiments in der Wissenschaft einen unschätzbaren Vorteil: Sie gelingen immer." Brenner erklärt auch, warum das nicht anders sein kann: "Denn die Initiatoren von Schulversuchen setzten sich die Ziele ebenso wie die Regeln selbst; ... ." In der Tat sind von daher Schulversuche - wenn überhaupt - in nur eingeschränktem Maße aussagekräftig. Brenner: "Meist handelt es sich um nichts anderes als um 'subjektive Erfolgsprotokolle der Anwender' - Erlebnisberichte also." (1)
Was für die Schulversuche gilt, lässt sich heute auch auf viele Studien/Untersuchungen übertragen: Sie sind beklagenswert oft nicht viel mehr als kostspielige interessengeleitete Veranstaltungen, die schon in ihrer Forschungshypothese zielorientiert definiert und auch so konstruiert sind, dass sich anschließend an Hand der Ergebnisse die der Studie/Untersuchung zugrunde liegenden Thesen und Glaubenssätze mühelos bestätigen lassen.
Mit ihrer Untersuchung, einer sog. 'explorativen Studie', "Klassengröße: eine wichtige Variable von Schule und Unterricht?", wollte im Jahre 2004 Dr. Grit im Brahm von der Ruhr-Universität Bochum in die fortwährende deutsche Diskussion um die Klassengröße an Grundschulen eingreifen. (2) An ihrer Untersuchung beteiligte sie 40 Klassen an 22 Essener Schulen. Die Studie wurde mit Unterstützung des Ministeriums für Schule, Jugend und Kultur des Landes NRW durchgeführt. (!)
Die Forschungshypothese für ihre 'explorative Studie' lautete: "Wenn die Klassengröße einen Einfluss auf schulische Wirkungen haben soll, dann muss es auf Unterrichtsebene einen feststellbaren Unterschied zwischen kleinen und großen Klassen geben." (2) Das bedeutet: Nur wenn in kleinen Klassen anders unterrichtet wird als in großen Klassen, wird sich dieser Unterricht - eben weil er anders ist - auch auf die Schülerleistungen auswirken können. 'Anders' ist heute ein zeitgeistnahes Qualitätsmerkmal geworden, - 'anders' ist immer auch schon 'besser'. In diesem Sinne verfährt Dr. im Brahm auch in ihrer Studie. Sie vergleicht in kleinen und großen Klassen auf der Unterrichtsebene - von ihr ausgewählte - zum Einsatz kommende Unterrichtsformen (Gruppenarbeit, Klassenunterricht, Differenzierungsmaßnahmen über Arbeitsblätter, Wochenplanarbeit) bezüglich der Häufigkeit ihrer Anwendung, deren Qualitätsmerkmale bleiben jedoch völlig unberücksichtigt. Die Studie von Dr. im Brahm hätte bei veränderter Forschungshypothese eine gewisse Bedeutung erlangen können: 'Wenn die Klassengröße einen Einfluss auf schulische Wirkungen haben soll, dann muss es auf Unterrichtsebene einen feststellbaren qualitativen Unterschied zwischen kleinen und großen Klassen geben.' Denn Qualität von Unterricht wirkt sich auf die Schülerleistungen aus, keinesfalls jedoch ist Unterrichtsqualität am oftmaligen Einsatz bestimmter Unterrichtsformen, z. B. dem besonders häufigen Einsatz von Differenzierungsmaßnahmen über Arbeitsblätter, zu messen - wovon Dr. im Brahm aber ausgeht. Wer als nicht mit Schule befasster Laie die im Brahms-Studie liest, kann leicht den Eindruck gewinnen: Wer im Unterricht viele Arbeitsblätter herausgibt (heißt in der Regel: wer viel kopiert), darin unterscheiden sich übrigens nach der 'explorative Studie' nach kleine und große Klassen kaum, ist ein guter Lehrer. Würden allerdings tatsächlich die Leistungen von Kindern an der Menge der insgesamt verwandten Arbeitsblätter gemessen, nähme Deutschland z. B. im Lesen (bei PISA u. IGLU) einen Spitzenplatz ein: "Beim Einsatz von Arbeitsblättern nimmt Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz ein: Die Hälfte der Kinder erhält täglich im Leseunterricht ein Arbeitsblatt." (3) In Bremen und Nordrhein-Westfalen erhalten 69 und 68 Prozent der Kinder täglich ein Arbeitsblatt - indes sind (neben Brandenburg) Bremen und Nordrhein-Westfalen bei der IGLU-Grundschul-Studie diejenigen Bundesländer, in denen am schlechtesten gelesen wird, die allesamt noch unter bundesdeutschem Durchschnitt liegen. Am individuellen Niveau der Kinder orientierte, also in besonderem Maße individualisierende Arbeitsblätter, erhalten im Leseunterricht in Baden-Württemberg weniger als 10% der Kinder, in Bayern 15%, in Nordrhein-Westfalen mehr als 30% der Kinder. Im Lesen lag indes bei IGLU Baden-Württemberg weit an der Spitze, Bayern dicht dahinter, abgeschlagen und noch unter bundesdeutschem Durchschnitt fand sich Nordrhein-Westfalen. (3) Bei IGLU wurde übrigens Leistung gemessen! Nach dem Leistungsverständnis von Dr. im Brahm wäre jedoch Nordrhein-Westfalen allein aufgrund des zahlenmäßig hohen Einsatzes von Arbeitsblättern bundesdeutscher Sieger im Lesen gewesen. Individualisierung mit Hilfe von Arbeitsblättern ist aber nur dann wirkliche Individualisierung, wenn die Arbeitsblätter in mehrfacher Hinsicht didaktischen Ansprüchen genügen und passgenau sind. Üblicherweise werden jedoch in Deutschland vorwiegend solche von der Bildungswirtschaft produzierte Massenprodukte in Schulen eingesetzt, die man oft erst kurz vor der Vermarktung mit dem Label 'Für einen individualisierenden Unterricht in der Grundschule' geadelt hat.
Im Gegensatz zu den außerdeutschen Studien, die die Schülerleistungen in kleinen und großen Grundschulklassen messen und miteinander vergleichen, verschafft sich im Brahm für Ihre Studie eine völlig andere Zielsetzung. In Wirklichkeit werden denn auch Schülerleistungen an keiner Stelle gemessen, und was sie eigentlich - im Gegensatz zur Forschung im Ausland - mit 'Schülerleistungen' meint, bleibt völlig rätselhaft.
Wer Frau Grit im Brahms Studie liest, muss schon bald zu dem Schluss kommen, dass sie ihre Ergebnisse aus den Befragungen der Lehrerinnen/Lehrer und Schülerinnen/Schüler interessengeleitet deutet: Wissenschaft ist das schon gar nicht! Frau Dr. im Brahm zieht ihr Fazit aus der Studie: "Insgesamt überwiegen Befunde, wonach keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Unterricht in kleinen und großen Klassen existieren." (2) Ein Fazit aus einer mehr als fragwürdigen Untersuchung, aus dem sich keinerlei aussagekräftige Schlüsse ziehen lassen! Diese Studie konnte jedenfalls nichts zur Klärung der Frage beitragen: Wie steht es denn nun in Deutschland um die Lernleistungen von Grundschulkindern in kleinen und großen Klassen?
Mit ihrer Studie folgte Frau Dr. im Brahm der in der Pädagogik inzwischen üblich gewordenen "weichen Evaluationskultur", und sie machte es so, wie es ihr die Initiatoren von Schulversuchen viele Male vorgemacht haben: Sie setzte sich die Ziele ebenso wie die Regeln selbst.
Anstatt die Lernleistungen von Grundschulkindern zu messen, lässt sie in kleinen und großen Klassen über Einschätzungen die feststellbaren Unterschiede auf der Unterrichtsebene abfragen und zieht dann aus den Interpretationen ihre Schlüsse.
Sie wählt selber - ohne jegliche Begründung - nach eigenem Gutdünken Kriterien für vermeintlich guten Unterricht aus. Nach ihrem eigenen Bekunden fokussiert sie bezüglich des Einsatzes verschiedener Unterrichtsmethoden nur die Häufigkeit des Einsatzes. Die Frage nach deren Qualität oder nach den Bedingungsfaktoren, die für gewisse Unterrichtssituationen eine bestimmte Unterrichtsform erforderlich machen oder eher ausschließen, werden bewusst ausgeklammert.
Mit ihrer Befragung der Lehrerinnen/Lehrer und Schülerinnen/Schüler, deren Antworten ausschließlich auf Einschätzungen beruhen, wählt sie ein völlig unangemessenes und höchst anfälliges Untersuchungsdesign zur Beobachtung des Unterrichts. Die meisten der "Befunde" werden aus Interpretationen gewonnen.
Immerhin hat sie die Eltern und Lehrerinnen/Lehrer zumindest mit einem Forschungsergebnis von der Bedeutsamkeit ihrer Studie überzeugen können: "Die Klassengröße wirkt sich unmittelbar auf das Raumangebot im Klassenzimmer aus. Mit steigender Schülerzahl nimmt nahezu linear das Platzangebot je Schüler ab." (2) Fürwahr ein solides Forschungsergebnis, das auch überprüfbar ist!
Hôni soit qui mal y pense: Frau Dr. im Brahm beendet die Darstellung ihrer Studie mit Modellrechnungen darüber, was das Absenken der Schülerzahlen in Grundschulklassen kostet. In der Zusammenfassung dazu heißt es: "Angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation der Länder und der Kommunen erscheint die Realisierung einer Verringerung der Klassengrößen problematisch." (2) Welche Schulministerin sollte das nach dieser erfreulichen Studie noch in Erwägung ziehen wollen? Die Studie wurde mit Unterstützung des Ministeriums für Schule, Jugend und Kultur des Landes NRW durchgeführt. (!)
III.2 Studien im Ausland belegen:
kleine Klassen - bessere Leistungen
Im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern gibt es in Deutschland keine Kultur der Unterrichtsforschung. Während unzählige außerdeutsche Primarschulstudien ohne Einschränkungen die positiven Effekte von kleinen Klassen auf die Schülerleistungen feststellten, sind bisher an deutschen Grundschulen jedoch noch nie Studien zu den Auswirkungen der Klassengröße auf Schülerleistungen durchgeführt worden. Eine einzige Studie aus dem Jahre 1984 belegt, dass Kinder aus größeren Klassen in den beiden ersten Schuljahren wesentlich häufiger zurückgestellt werden als Schüler/innen aus kleineren Klassen. (4) Letzteres Untersuchungsergebnis mag für deutsche Schulpolitiker schon recht brisant gewesen sein: Untersuchungen, die zwingend einen schulpolitischen Handlungsbedarf in Richtung kleinerer Klassen nahe legen würden, könnten die Kosten für die schulische Bildung in die Höhe schnellen lassen. Denjenigen, die für kleinere Schulklassen plädieren und Argumente gegen die große Schulklasse sammeln, bleibt folglich nichts anderes übrig, als auf die Forschungsergebnisse - besonders - in den angelsächsischen Ländern zu schauen: Dort gibt es seit mehr als hundert Jahren immer wieder Studien zur Effektivität von Unterricht in großen/kleinen Klassen - mit den bekannten Ergebnissen.
Eine der bekanntesten und unumstrittensten Untersuchungen zum Einfluss der Klassengröße auf die Hauptfächer Mathematik und Muttersprache ist die Tennessee-Studie: eine Langzeitstudie zur Wirkung kleiner Klassen im letzten Kindergartenjahr, im ersten und im zweiten Schuljahr. Durchgeführt wurde die als Projekt STAR (6) bezeichnete Studie über vier Jahre - mit eindeutigen Ergebnissen.
An den 79 teilnehmenden Versuchsschulen wurden die teilnehmenden Kinder
im letzten Kindergartenjahr
im 1. Schuljahr
im 2. Schuljahr
auf jeweils drei Klassentypen/Gruppen verteilt:
Gruppe/Typ 1: kleine Klassen mit 13 bis 17 Schülern - 1 Lehrkraft
Gruppe/Typ 2: reguläre Klassen mit 22 bis 25 Schülern - 1 Lehrkraft
Gruppe/Typ 3: reguläre Klassen mit 22 bis 25 Schülern - 2 Lehrkräfte
Ergebnis: Kinder, die in Klassentyp 1 von einem Lehrer unterrichtet wurden, profitierten in jeder Hinsicht vom Unterricht in der kleinen Klasse, am offensichtlichsten in den Hauptfächern Mathematik und Muttersprache. Die regulären Klassen mit 22 bis 25 Schülern, mit einer oder zwei Lehrkraft/kräften hatten deutliche Nachteile in den Leistungsfächern.
Von kleinen Klassen profitieren alle Arten von Kindern in einem nicht vorherzusenden Ausmaß, heißt es in der Auswertung der Studie, insbesondere aber lernschwächere Kinder und solche aus sozial benachteiligten, unterprivilegierten Familien. Untersucht und dokumentiert ist auch, dass die Wirkungen des Unterrichts in einer kleinen Klasse über Jahre hinweg - messbar bis in die 8. Klasse - andauern. Auch dieses Fazit konnte gezogen werden: Die Wirkungsmöglichkeiten des Unterrichts in einer kleinen Klasse waren bei denjenigen Kindern am stärksten, die von Anfang an in kleinen Klassen unterrichtet worden waren.
Ein zweites Experiment dieser Art wurde in Wisconsin, ebenfalls USA, unter dem Projektnamen 'SAGE' durchgeführt. Die Professoren Dr. Klauer und Dr. Leutner dazu: "Dort kam man im Grunde zu den gleichen Schlussfolgerungen, so dass inzwischen viele amerikanische Bundesstaaten Programme zur Verringerung der Klassengröße aufgelegt haben (Finn et al., 2003)." (7) Dutzende von weiteren amerikanischen Studien zur Wirkung kleiner Klassen belegen inzwischen: Alle Arten von Grundschulkindern, in besonders hohem Maße sozial benachteiligte, unterprivilegierte und leistungsschwache Schülerinnen/Schüler profitieren von kleinen Schulklassen.
Die Schülererfolge in kleinen Klassen, so fand man heraus, sind einerseits auf die Individualisierungsmaßnahmen mit hohem Qualitätsniveau zurückzuführen. Andrerseits gibt es aber auch einen Zusammenhang zwischen Klassengröße und dem Engagement der Schülerinnen und Schüler, das in kleinen Klassen erheblich stärker war. In der Englischen Studie Infant Schools konnte nachgewiesen werden, dass sich kleine Klassen auch positiv auf die Kind-Lehrer- und Lehrer-Kind-Interaktionen auswirkten. (8)
Art und Häufigkeit von Sozialkontakten (8)
in kleinen Klassen - 122 Kinder | in großen Klassen - 122 Kinder | Unterschied signifikant | |
Lehrkraft zu Kind | 213 | 144 | ja |
Kind zu Lehrkraft | 215 | 148 | ja |
IV.
Was sagt die Neurobiologie?
"Der Mensch ist - und dies gilt insbesondere für das Kind - ein »Beziehungstier«."
(Prof. Dr. Joachim Bauer, habilitiert für Innere Medizin und Psychiatrie, Neurobiologe)
Schule heute ist auch in dieser Hinsicht anders als Schule früher:
Über 50 Prozent aller schulpflichtigen Kinder haben gem. einer Studie des Gesundheitsamts Stuttgart ( 2000 ist das Jahr der Studie) chronische gesundheitliche Beschwerden.
Mehr als 15 Prozent aller Schüler/innen sind von »harten« psychiatrischen Störungen betroffen (Deutsches Ärzteblatt A1436-A1441, 2002).
Schon an Grundschulen - nicht etwa nur an Brennpunktschulen - ist die Gewaltbereitschaft etlicher Kinder zum großen Thema geworden.
Die Verwahrlosung nimmt zu, so erscheint z. B. bereits in der Grundschule ein Großteil der Kinder allmorgendlich ohne Frühstück in der Schule.
"Die Unterrichtssituation ist heute vielfach in keiner Weise mehr formatiert. Lehrkräfte wenden heute den größten Teil ihrer Energie dafür auf, erst einmal eine Situation herzustellen, in der Unterricht überhaupt möglich ist." (Prof. Dr. Joachim Bauer: Lob der Schule, Hamburg 2007)
körperlicher,
kognitiver,
emotionaler,
sozialer
Kinder mit einer auf verschiedenen Ursachen zurückzuführende Lese-/Rechtschreibschwäche (Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten) (Siehe dazu in Anlagen zu Elternbrief Nr. 3 > Ursachen für Rechtschreibschwierigkeiten/-störungen!).
Kinder, die - trotz Frühförderungsmaßnahmen - kaum die deutsche Sprache beherrschen und in einem Umfeld leben, in dem vorwiegend nicht Deutsch gesprochen wird. Sie verfügen oft nur über einen sehr geringen aktiven/passiven Wortschatz, sind nicht zur Formulierung einfacher Sätze imstande und können sich – auch die lautliche Ebene betreffend – nicht verständlich artikulieren. Diese Kinder sind beeinträchtigt in der Kommunikation mit dem Lehrer und mit den anderen Kindern. Im Klassenverband droht ihnen die Isolation.
Kinder
aus deutschen Elternhäusern, die spracharm aufgewachsen sind und daher nur über
einen sehr geringen aktiven/passiven Wortschatz verfügen,
nicht einmal zur Formulierung einfacher Sätze imstande sind und sich –
die lautliche Ebene betreffend – nicht verständlich
artikulieren können. Diese Kinder sind beeinträchtigt in der
Kommunikation mit dem Lehrer und mit den anderen Kindern. Im Klassenverband
droht ihnen die Isolation.
Kinder
mit, Kinder ohne vorschulische Schreib- und Leseerfahrung
Kinder
mit, Kinder ohne mathematische Vorkenntnisse
Kinder
mit hohem Sachwissen/Kinder nahezu ohne Sachwissen
Kinder
mit bisher nicht erkannten Hörfehlern
Kinder
mit bisher nicht erkannten Sehschwächen
Kinder
mit bisher nicht erkannten und behandelten Sprachfehlern
Kinder
mit erheblichen motorischen Problemen, die z. B. nicht einmal in der Lage sind, ihre
Schnürsenkel zu binden oder den Reißverschluss des Anoraks zu öffnen/schließen,
Bälle zu werfen oder zu fangen
Kinder
mit erheblichen feinmotorischen Problemen, die nicht in der Lage sind, einen
Bleistift/Farbstift zu halten, um damit zu schreiben/zu zeichnen. Die
Hirnforschung bezeichnet dieses Phänomen als Dyspraxie, sie ist auf eine
Entwicklungsstörung/-verzögerung des Gehirns zurückzuführen. Die motorische
Steuerung ist gestört/nicht entwickelt, was sich selbstverständlich in
erheblichem Umfang auch negativ auf das Erlernen des Schreibens auswirken
kann.
wissbegierige Kinder, desinteressierte Kinder
lebhafte
Kinder, stille Kinder
Kinder
mit hoher, Kinder mit sehr geringer Lernmotivation
Kinder
mit hoher, Kinder mit niedriger Leistungsbereitschaft
Kinder mit chronischen Erkrankungen (50% aller Kinder)
Kinder, die noch einnässen/einkoten
Kinder mit »harten« psychiatrischen Störungen (15% der Kinder)
verwahrloste
Kinder (z. B. solche ohne regelmäßiges Frühstück)/überbehütete Kinder
wohlerzogene
und nicht-erzogene, verwöhnte, verhaltensauffällige Kinder (Man denke dabei an die
RTL-Sendereihe „Super-Nanni!)
Kinder aus intakten Familien, Kinder Alleinerziehender, Kinder aus problematischen Elternhäusern (Alkoholismus, Drogensucht, ...)
Kinder
aus bildungsaufgeschlossenen, Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern
Kinder
aus schulfreundlichen, Kinder aus schulfeindlichen Elternhäusern
Nicht nur Kinder aus den sog. problematischen Elternhäusern, die häufig von außen nicht einmal als solche eingeschätzt werden, sind oft in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigt. Problematische Elternhäuser finden wir heute in allen Schichten der Bevölkerung, und zunehmend begegnen wir auch bei nach außen hin wohlbürgerlich erscheinenden Familien der Verwahrlosung von Kindern: Solchen Wohlstandskindern, deren Kinderzimmer vollgestopft sind mit dem aktuellsten High-Tech-Spielzeug und mit allem, was die Entertainment-Technik zu bieten hat, denen am Wochenende regelmäßig irgendwo irgendein Event geboten werden muss, die sich von Mitschülern/Mitschülerinnen immer wieder wegen ihres schicken Outfits bewundern lassen dürfen, die fortwährend zu Ballett- und Reit- und Tennisunterricht oder sonstigen Außer-Haus-Aktivitäten chauffiert werden. Sie weisen nämlich nicht selten eindeutige Verhaltensweisen auf, die auf innere Verwahrlosung und auf schlimme Defizite in der Eltern-Kind-Eltern-Beziehung schließen lassen. Das ist natürlich auch nicht anders zu erwarten, wenn Eltern die Beziehung zu ihren Kindern vorwiegend über Konsumzugeständnisse erhalten oder reparieren wollen, anstatt das wechselseitige Bindungsgefüge über aktive und interaktive einfühlsame personale Nähe weiter zu entwickeln und zu pflegen. Ganz offenbar ersetzen inzwischen die elterlichen Konsumzugeständnisse auch viele Male die aktive Erziehungsarbeit, die immer auch zugleich, solange sie nicht als Drill missverstanden wird, Arbeit an der Eltern-Kind-Eltern-Beziehung ist, einer Beziehung, die lebensentscheidende Bedeutung hat. Zuverlässige persönliche und einfühlsame Zuwendungen von ihren Bezugspersonen, dazu gehören auch Lehrerinnen - besonders während der Grundschulzeit, sind für Kinder jedoch von unschätzbarer Bedeutung.
Erst vor wenigen Jahren entdeckten Neurobiologen die neurobiologischen Motivationssysteme, die mit der Produktion der Botenstoffe Dopamin, der Opioide und des Oxytozin befasst sind. Volle Funktionstüchtigkeit bei der Entwicklung von Lebenswillen, Energie, Motivation und Lust an Leistung erreichen die Motivationssysteme jedoch erst dann, wenn dem Menschen Interesse, soziale Anerkennung und persönliche Wertschätzung entgegengebracht werden. Dabei hat, so der Neurobiologe Prof. Dr. Joachim Bauer, "bereits die bloße Aussicht auf Anerkennung und Wertschätzung eine massive Aktivierung dieser Systeme zur Folge." (9) Konkreter fordert der Neurobiologe: "Kinder und Jugendliche müssen begleitet werden - und zwar durch »Beziehung«, also von Interesse, Nachfragen, Ansporn und Forderung, auch von Kritik, aber ebenso von Anteilnahme, Hilfe und Ermutigung. Anspruch und Zuwendung sind, wie erwähnt, erstrangige Stimuli für die Motivationssysteme des Kindes. Schulkinder, insbesondere Grundschulkinder, brauchen zu ihrem schulischen Erfolg persönliche Bindungen zu Bezugspersonen, denen es gelingen kann, mit der Einbringung ihrer personalen Nähe die kindlichen Motivationssysteme zu entfalten. "Zwischenmenschliche Beziehungen sind für Kinder eine Art essenzielles Vitamin, sie sind ebenso wichtig wie gesunde Ernährung und ausreichender Schlaf." (9)
Der Unterricht in Grundschulklassen mit weniger als 25 Kindern, erst recht in solchen mit weniger als 20 Kindern, gäbe in hinreichender Fülle Spielräume her, die es einer Lehrerin erlauben könnten, so zu handeln, wie es die neurobiologischen Erkenntnisse nahe legen - und sie, die Lehrerin, es eigentlich auch gerne selber möchte. Hinzukommt, dass z. B. das Loben, Nachfragen, Anspornen, Helfen, Anteil nehmen und Ermutigen an Situationen gebunden sind und folglich im unmittelbar daran geknüpften situativen Kontext auch entsprechend gestisch, mimisch und verbal zu handeln wäre.
Für Kinder mit fehlenden soliden häuslichen Bindungen schon ab den ersten Lebensjahren, die als Folge seelisch instabil zu werden drohen oder zu depressiven Störungen neigen, was wiederum massiv das kognitiv-intellektuelle Leistungsvermögen beeinträchtigen kann, könnten Lehrerinnen eine 'zweite Chance' sein, meint Prof. Dr. Joachim Bauer. (9) "Der Einfluss von guten oder schlechten Beziehungserfahrungen geht lebenslang weiter, die sogenannte Plastizität (Formbarkeit) des Gehirns endet nicht mit der Kindheit oder Jugend. Was sie nicht zu Hause bekommen können, versuchen sich die Kinder außerhalb der Familie zu verschaffen." (9) In der Tat könnte Schule ihnen helfen: Aber nicht in Klassen mit mehr als 25 Kindern! Kinder mit schwerwiegenden Beziehungsdefiziten versuchen sich auf ihre Weise eine 'Zuwendung' zu verschaffen: Sie stören wiederholt massiv den Unterricht und ziehen auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Lehrerin auf sich.
Grundschullehrerinnen können davon berichten, in welch erschreckendem Ausmaß die Zahl der beziehungslos oder weitgehend beziehungslos aufwachsenden Kinder ständig wächst, und das inzwischen sogar an Landschulen in der einst als 'heil' gepriesenen dörflichen Welt: Kinder, die Anerkennung brauchen, Zuneigung, ein erheiterndes, aufmunterndes und ermutigendes, ein liebes Wort, die die körperliche Nähe der Lehrerin suchen, sie bei der Hand nehmen, sich von ihr in den Arm nehmen und über den Kopf streicheln lassen wollen, sich einmal auf ihren Schoß setzen wollen, ihr ganz viel von sich erzählen wollen, weil ihnen sonst niemand zuhört. Prof. Dr. Joachim Bauer hat Recht: Lehrerinnen könnten vielen Kindern ein Stück Geborgenheit geben, könnten für viele eine 'zweite Chance' sein! (9) Ein Schulministerin, die als Parole ausgibt, diese durch nichts zu ersetzende Beziehungsarbeit, die um vieles wichtiger ist, als die Anzahl der eingesetzten Arbeitsblätter oder die Häufigkeit von Gruppenunterricht, gelinge umso besser in Schulklassen mit über 30 Kindern, ist dieses verantwortungsvollen Amtes nicht würdig.
Kinder mit den unterschiedlichsten Stärken und Schwächen, mit den unterschiedlichsten Störungen, mit den unterschiedlichsten Biographien finden Lehrerinnen heute in Grundschulklassen, und nie zuvor gab es in der Grundschule Eingangsklassen, die in ihrer Zusammensetzung heterogener waren. Prof. Dr. Joachim Bauer lässt keinen Zweifel daran, was dringend nottut: "Die Politik muss seriöse Beiträge leisten, die darauf abgestimmt sind, die Schule zu einem Lebensraum für Kinder und Jugendliche zu machen und die Qualität des Unterrichts zu fördern. Hierzu gehört, dass die Klassengrößen auf zwanzig bis fünfundzwanzig Kinder begrenzt werden." (9) In einer Sendung des Saarländischen Rundfunks bezeichnete Prof. Dr. Joachim Bauer am 13.05.2007 die Senkung der Klassengröße als "wichtigste politische Einzelmaßnahme". Denn, so Prof. Dr. Joachim Bauer: "Alles schulische Lehren und Lernen ist eingebettet in ein interaktives und dialogisches Beziehungsgeschehen." (9) Dass solche Erkenntnisse bei der Kultusministerkonferenz Eingang gefunden haben, bezeugt die gemeinsame Erklärung der Bildungs- und Lehrergewerkschaften und der Kultusministerkonferenz ('Fördern und Fordern') vom 19.10.2006: "Es gilt eine Entwicklung zu befördern, die es ermöglicht, sich stärker auf den einzelnen Schüler und die einzelne Schülerin zu konzentrieren." Schul- und Kultusminister(innen) haben ihre hohlen Erklärungen inzwischen zu Dienstanweisungen verarbeitet und als Auflage an die Schulen weitergereicht: Die Eltern haben für ihre Kinder das einklagbare Recht auf Individualisierung erhalten - und die Klassenlehrerinnen auch in Klassen mit über 30 Erstklässlern sollen dem gefälligst entsprechen können.
Auf Legenden, die vom 'kompetenten Kind' sprechen und es als genetisch programmierten Selbstläufer sich aus sich selbst heraus entwickeln sehen, stützen sich Schulpolitiker immer wieder gerne. Mit solchen Nacherzählungen ließen sich auch noch größere Klassen rechtfertigen! Prof. Dr. Joachim Bauer hält dagegen: "Biologische Systeme - also auch der Mensch - sind keine durch Gene programmierten Selbstläufer, die mit Hilfe eines Autopiloten durchs Leben fahren." (9)
Die Formel des Amtseids der Schul- und Kultusminister dürfte in den einzelnen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland einen ähnlichen Wortlaut haben:
"Ich schwöre, dass ich meine ganze Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, das mir übertragene Amt nach bestem Wissen und Können unparteiisch verwalten werde." (Beispiel Land NRW)
Fehlt es den meisten von ihnen an Wissen und Können? Oder wie sonst haben wir ihr Fehlverhalten zu verstehen?
J. Günter Jansen
Prof. Dr. Peter J. Brenner: Schule in Deutschland - ein Zwischenzeugnis, Stuttgart 2006
Dr. Grit im Brahm/vorm. Arnhold: Kleine Klassen - große Klasse?, Bad Heilbrunn 2005
Prof. Dr. Wilfried Bos et. al. (Hrsg.): IGLU, Münster, New York, München, Berlin 2004
Prof. Dr. Hans-Günther Roßbach: Schulische Bedingungen für den Erfolg in der Grundschule, in: Zeitschrift für erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschung, 1984
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Prof. Dr. Joachim Bauer: Lob der Schule, Hamburg 2007
Demnächst in Elternbrief Nr. 15: Ein unrühmliches Beispiel für Unterrichtsforschung in Deutschland - Die 'explorative Studie' "Klassengröße: eine wichtige Variable von Schule und Unterricht?" von Dr. Grit im Brahm, Ruhr-Universität Bochum