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Elternbrief Nr. 18

(06/08)

 

 

Neue Lehrpläne an nordrhein-westfälischen Grundschulen - 

 Abschreiben lernen: abstruser Rechtschreibunterricht nach der irrigen Wortbildtheorie aus dem

 19. Jahrhundert 

 

 

1.

 Bessere Rechtschreibnoten für NRWs Grundschulkinder:

   Wenn das Abschreiben-können zur besonderen Kompetenz wird.  

Bei Schneiders war neulich Festtagsstimmung. Filius Patrick, Viertklässler der Erich-Kästner-Grundschule in K., machte ganz offenbar Fortschritte im Rechtschreiben. Zum ersten Mal in diesem Schuljahr gab es für ihn eine Vier in Rechtschreiben: Nur 12 Fehler in einem Abschreibtext von 80 Wörtern Länge hatten ihn zu diesem unverhofften Erfolg verholfen, mit 13 Fehlern wär's schon eine Fünf gewesen. Noch Anfang der 70er Jahre hätte ihm, dem Viertklässler, diese Fehlerzahl in einem ungeübten Testdiktat (Soltauer Testdiktate) mit 80 Wörtern allerdings ein Ungenügend eingebracht. Nach den neuesten Lehrplänen des Landes Nordrhein-Westfalen liegt Patricks Rechtschreibleistung jedoch im grünen Bereich. Unter 'Kompetenzerwartungen' steht  nach Abschluss der Grundschule noch immer an vorderster Stelle als Zielformulierung: "Die Schülerinnen und Schüler schreiben methodisch sinnvoll und korrekt ab."

Das 'Bildungsland' Nordrhein-Westfalen hat jetzt, in 2008, wieder einmal  seine Lehrpläne für die Grundschule renoviert (zuletzt in 2003) und dabei alles das übertüncht oder getilgt, woran sich konkrete Leistungsanforderungen ablesen lassen könnten. Übrig blieben - wie im Fall Rechtschreiben - einige wenige wachsweiche Floskeln, bei deren Rezeption gewissenhafte LehrerInnen und alerte schulinteressierte Eltern ins Grübeln geraten. 

Lehrplan 'Rechtschreiben' für die Schuleingangsphase (Kopie d. Originals), die für viele Kinder erst nach Klasse 3 endet :

Auch noch für das 4. Schuljahr heißt es  in den Lehrplänen an erster Stelle: "Die Schülerinnen und Schüler schreiben methodisch sinnvoll und korrekt ab."

Im Lernbereich 'Richtig Schreiben' wurde das Abschreiben an exponierter Stelle in den Kanon der sog. Kompetenzerwartungen aufgenommen. Über Jahrhunderte hinweg galt in der Deutsch-Didaktik das Abschreiben als eine Übungsform neben vielen anderen. In den neuen Lehrplänen erhält neuerdings in  NRW-Grundschulen eine dieser im Rechtschreibunterricht üblichen Arbeitsformen, das Abschreiben-können, die Weihe zu einer der wichtigsten Kompetenzen, und das bis in die 4. Klasse. Diese Akzentverschiebung, die für die Grundschule die umfassendere Rechtschreibkompetenz weitgehend auf eine Abschreibkompetenz reduziert, führt in nordrhein-westfälischen Grundschulen bereits seit Langem dazu, dass Fluten von Abschreibtexten im Deutschunterricht inzwischen das Unterrichtsgeschehen bestimmen und fehlerfrei abgeschriebene Texte als Indikatoren für gute Rechtschreibleistungen gehalten werden. Indes ist das Abschreiben von Texten, was die Effektivität zum Erlernen der Rechtschreibung betrifft, keineswegs unumstritten. Aber immerhin wird mit den neuen Lehrplänen erreicht, was zu erreichen war: Die Verleihung des Adelstitels 'Kompetenz' für die mehr als strittige Übungsform 'Abschreiben' wird bei den Schülern/Schülerinnen dazu führen, dass sich die Leistungsnoten im Fach Rechtschreiben 'verbessern'.  Seit Langem schon werden in den Grundschulen bei der Benotung der Rechtschreibleistungen - zunehmend mit größerer Gewichtung - die Abschreibleistungen gewürdigt. Beobachtbare Folge: Die Rechtschreibnoten wurden immer besser. Die  Akzentverschiebung von der umfassenderen Rechtschreibkompetenz zur Abschreibkompetenz hat offenbar auch zum Ziel, von dem Rechtschreibelend abzulenken, das Lehrer an NRWs weiterführenden Schulen zunehmend beklagen. Dies ist wohl  in NRW der Weg, schulischen Problemen zu begegnen.

 

   2.

Abschreiben: eine umstrittene Übungsform 

Je nach M(eth)ode wechselt die Begründung

Seit mindestens dem 18. Jahrhundert wird die Übungsform des Abschreibens von den unterschiedlichsten methodischen Konstrukten zum Erlernen der Rechtschreibung empfohlen. So wurde bereits zu Zeiten, als nach der Buchstabier- und Syllabiermethode unterrichtet wurde, in der Nürnberger Ordnung für die deutschen Schulen von 1638 Lehrern der Rat erteilt, die orthographischen Fehler in den Abschreibübungen der Schüler nicht selber zu korrigieren, "sondern 'nur mit so vielen Pünctlein, als Fehler in der Zeil sind, am Rande [zu bezeichnen]'  und die Schüler "diese dann "aus der Vorschrift" selbst nachsuchen zu lassen. Nach Beinlich (1960, in: Ossner Prof. Dr. Jakob Ossner: Geschichte der Didaktik des Rechtschreibens. In: Ursula Bredel, Hartmut Günther, Peter Klotz, Jakob Ossner, Gesa Siebert-Ott [Hrsg.]: Didaktik der deutschen Sprache, Bd. 1, Paderborn 2003) waren die Abschreibübungen der Buchstabiermethode schon damals keineswegs nur als 'äußerlich-mechanistische' Abläufe (Beinlich ebd.) zu verstehen. Kinder sollten auf diese Weise "über das Auge die schriftgestützte Orthoepie" erlernen (Ossner ebd.) und so den Übergang vom Lesenlernen ins Rechtschreiben vorbereiten. 

Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts (in Grundzügen) wieder vermehrt die Lautiermethode des 16. Jahrhunderts (Valentin Ickelsamer) propagiert wurde, stellte sich der Deutsch-Didaktiker Bormann (1840) mit seiner Wortbildtheorie dagegen: Jedes Wort habe in der Schriftsprache seine eigentümliche Physiognomie, und es sei Aufgabe des Rechtschreibunterrichts, "dem Kinde dazu zu verhelfen, dass es sich diese Physiognomie der Wörter scharf und sicher einpräge, welches natürlich allein durch die Vermittlung des Auges geschehen kann. [...] Alles kommt darauf an, zu verhüten, dass dieses Wortbild sich nicht trübe und nicht verunstalte, vielmehr dahin zuarbeiten, dass es immer klarer, immer fester in der Seele werde". (Bormann 1840, in: Prof. Dr. Jakob Ossner: Geschichte der Didaktik des Rechtschreibens. In: Ursula Bredel, Hartmut Günther, Peter Klotz, Jakob Ossner, Gesa Siebert-Ott [Hrsg.]: Didaktik der deutschen Sprache, Bd. 1, Paderborn 2003) Seiner Theorie folgend argumentierte Bormann denn auch für das Abschreiben. Der Didaktiker Seltßam formulierte (1891) dementsprechend für die schulische Praxis den griffigen Slogan: "Schreib, was du schaust!"  Über Jahrzehnte hinweg standen sich kompromisslos zwei Richtungen gegenüber: die Lautierer, die für das Diktatschreiben plädierten, die Anhänger der Wortbildtheorie, die das Abschreiben als effektivste Übungsform ansahen.

Zu Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zog die Ganzheitsmethode der Brüder Arthur und Erwin Kern in die Schulen ein. Den theoretischen Rahmen für ihre neue Methode im Anfangsunterricht bezogen sie aus der Gestaltpsychologie. Sie betrachteten nicht mehr wie bisher Laute, Buchstaben und Silben als Grundeinheiten der Sprache, sondern die Wörter. Sie nahmen an, dass für das Erlernen der deutschen Rechtschreibung der 'Sehweg' der entscheidende sei und daher die Wörter als Ganzes zu lernen seien. Ihre Theorie folgte damit in Grundzügen wieder der Wortbildtheorie. Folglich hielten auch sie die Abschreibübung für die wichtigste Übungsform zum Erlernen der Rechtschreibung. 

Nachdenklich aber machten auch schon seinerzeit Untersuchungsergebnisse, die belegten, dass debile, ja selbst imbezile Kinder beachtliche Abschreibleistungen erzielen konnten, sie aber keineswegs imstande waren, eigenständig auch nur einen selbstformulierten Satz ohne eine Fülle von Rechtschreibfehlern zu Papier zu bringen. (S. dazu auch unten Tabelle A-1!)

Wenn es um Methoden zum Erwerb des Lesens und Schreibens geht, scheint es seit Jahrhunderten nicht unüblich zu sein, dass sich die jeweiligen Verfechter ihrer Konzepte unversöhnlich gegenüberstehen. Seit mehr als einem Jahrzehnt erleben wir, dass  insbesondere die Vertreter der Methode 'Lesen durch Schreiben' ihre Entwürfe militant für die allein seligmachenden halten, immer noch - obschon alle seriösen Studien, die tatsächlich den Maßgaben der Objektivität, der Reliabilität und Validität entsprechen, dagegen sprechen. Deren Tun ist indes nur mit einigem Hintergrundwissen zu durchschauen: Gerade die Methoden 'Lesen durch Schreiben' machen den Einsatz einer Fülle teurer Arbeitsmaterialien erforderlich. Insbesondere dann, wenn die Verfechter einer Methode, wie deutlich ausgeprägt im Falle Sommer-Stumpenhorst, gleichzeitig auch die Materialien selber produzieren und verkaufen, dürften die Interessen am Überleben eines methodischen Konzepts besonders stark sein. Dagegen helfen auch keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse. 

Der phonographisch ausgerichtete Ansatz der Methode 'Lesen durch Schreiben' - wie bei Reichen, Sommer-Stumpenhorst u. 'Tinto' - setzt schon für die ersten Grundschuljahre auf die Übungsform des Abschreibens, man hat indes größte Mühen, dies  plausibel zu begründen, bei Sommer-Stumpenhorst heißt es lapidar: "Indem Kinder Texte abschreiben, lernen sie die orthografisch richtige Schreibung kennen." Das allerdings ist nicht viel mehr als eine vage/völlig unbegründete Vermutung, vielleicht sogar eine einzige Hoffnung: Kinder, die nach der phonographisch ausgerichteten 'Methode Sommer-Stumpenhorst' 'unterrichtet' werden, lernen gerade das richtige Schreiben eher weniger. Denn bis weit in die dritte Klasse hinein arbeiten bei Sommer-Stumpenhorst die Kinder in den grundlegenden Kategorien des lautorientierten Schreibens und der Laut-Buchstaben-Zuordnung (s. dazu auch die Elternbriefe Nr. 13 und 16!).  

Die aktuelle Deutsch-Didaktik hat die vorwiegend phonographisch ausgerichteten Konzepte inzwischen weit hinter sich gelassen und diskutiert die inzwischen etablierten graphematisch orientierten Ansätze. Einigkeit herrscht nämlich heute darüber, dass Schrift die gesprochene Sprache nicht abbildet, sondern lediglich interpretiert. (Prof. Dr. Gerhard Augst/Prof. Dr. Mechthild Dehn: Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht, Stuttgart-Düsseldorf-Leipzig 2oo2) 

Die Fachdidaktikerin Schründer-Lenzen formuliert: "Lehrgänge, die nur einen Weg des Schreibens absolut setzen, also entweder nur lautgetreu verschriften, wie es in dem Lehrgang 'Lesen durch Schreiben' von Jürgen Reichen (wie auch bei den Methoden Sommer-Stumpenhorst u. 'Tinto', Anmerkg. des Autors) geschieht, oder die ausschließlich auf die lexikalische Speicherung setzen, wie es die Ganzheitsmethode der 1960er Jahre vorsah, sind abzulehnen. Beide Verfahren setzen den Lernanfänger jeweils auf eine falsche Fährte." (Prof. Dr.  Agi Schründer-Lenzen: Schriftspracherwerb und Unterricht, Opladen 2004) In ihrem Buch ' stellt sie auch das Zwei-Wege-Modell des Schreibens vor:

Zwei-Wege-Modell des Schreibens (stark vereinfachte Darstellung des Autors)

Zerlegung des Wortes in einzelne Laute und Verschriftung gemäß der Phonem-Graphem-Korrespondenz Direkter  Abruf  eines  Schreibschemas* aus einem inneren orthographischen Lexikon

Phonologischer Zugriff

Lexikalischer Zugriff

Lautorientierte Verschriftung

orthographisch richtiges Schreiben

Prof. Agi Schründer-Lenzen: "Die Lautorientierung ist eben nur ein Prinzip unter anderen und kann daher nicht zur ausschließlichen Lernorientierung werden. Kinder brauchen von Anfang an die Konfrontation mit allen Strukturprinzipien der deutschen Sprache wie sie in korrekt geschriebenen Texten präsentiert wird."  Durch geeignete Formen der Auseinandersetzung mit der geschriebenen Sprache ist es bei Einhaltung gewisser Arbeitsverfahren aber möglich, das Repertoire der Wortschemata zu erweitern. Abschreibübungen allerdings bieten diese Möglichkeit in keiner Weise. Die Problematik um die Zerlegung eines Wortes in einzelne Laute und die Verschriftung gemäß der Phonem-Graphem-Korrespondenz wird in 5.) noch einmal eingehender diskutiert.

* Ein Schreibschema ist kein Wortbild. Das 'innere Lexikon' des kompetenten Schreibers besteht nicht aus visuell gespeicherten Wortbildern, "sondern aus mentalen Vernetzungen sprachstrukturellen Wissens." (Prof. Dr. Schründer-Lenzen)  

 

3. 

Grundschullehrplan NRW: Abschreiben können gilt als wichtigste/hoch angesiedelte Kompetenzerwartung noch nach den Klassen 2/3 und 3/4

Mit dem Attribut 'unglaublich' sind die nordrhein-westfälischen Grundschulanforderungen in 'Rechtschreiben' kaum noch zu beschreiben, besonders ärgerlich ist die erneute Absenkung der Anforderungen: Das Abschreiben wird neuerdings im Lernbereich 'Richtig schreiben' als besondere Kompetenz noch bis nach Klasse 4 ausgewiesen.  

Die Befürworter der Übungsform des Abschreibens wissen, wie das Abschreiben nicht ablaufen darf: 

Andere wissen genau, wie die Arbeitsschritte beim Abschreiben zu erfolgen haben: 

Insgesamt finden wir  jedoch nicht viel mehr als griffige, aber inhaltslose Slogans, wenn wir nach durchformulierten schlüssigen Begründungen für die Übungsform des Abschreibens suchen und uns nicht mit Mutmaßungen und Behauptungen darüber begnügen wollen:

Schon seit Jahrzehnten  wird  in nordrhein-westfälischen Lehrplänen das Rechtschreiben nur noch als herrlichste Nebensache der Welt abgehandelt,  bei jeder Revision der Lehrpläne wurden die Anforderungen  nach unten korrigiert. Jetzt, da man bezüglich der Kompetenzerwartungen beim Abschreiben angekommen ist, gibt es allerdings denn doch Probleme:

Tabelle A-1: Angaben zum schriftsprachlichen Leistungsstand und Gründe für die Förderschulempfehlung laut sonderpädagogischem Beratungsgutachten 

(aus: Sandra Deneke: Konstruktionen über Schriftsprache und Schriftsprachlernen [Dissertation], Hannover 2006)

Abschreiben gut

Und: Niemand kann - wie auch? - schlüssig feststellen, ob SchülerInnen der vorgeschriebenen Prozedur entsprechend abschreiben bzw. abgeschrieben haben: lesen, merken, schreiben, kontrollieren. Schon zeitig gibt es in Grundschulklassen rechtschreibschwache Kinder  in unterschiedlicher Anzahl, die Techniken des schnellen Kopierens von Texten entwickeln und dabei fehlerarme Arbeiten zustande bringen. Diese Kompetenzstufe der neuen NRW-Richtlinien "Schülerinnen und Schüler schreiben bekannte Texte mit überwiegend lautgetreuen Wörtern fehlerfrei ab" erreichen auch zahlreiche schwächere Rechtschreiber mühelos - bleiben als solche unerkannt, werden folglich auch nicht gefördert.   

Bei dieser Sachlage wird auch deutlich, dass die Abschreibkompetenz nicht wirklich als ein verwertbares Indiz für eine besondere Kompetenz im Rechtschreiben gelten kann, nicht nach Klasse 2 oder 3, nicht nach Klasse 4, und erst recht nicht z. B. nach Klasse 10. Es ist auch nicht bekannt, dass Einstellungstests je eine solche Kompetenz abgefragt hätten. Für welchen Beruf eigentlich könnte eine Abschreibkompetenz unverzichtbar sein? Rechtschreiben zu können ist dagegen inzwischen deshalb eine in hohem Maße nachgefragte Kompetenz geworden, weil immer weniger Schulabgänger darüber verfügen und viele nicht einmal mehr lächerlichen Mindestanforderungen genügen können. Für viele Jungendliche bedeutet solides Rechtschreibwissen/-können heute die Eintrittskarte in den Wunschberuf, auch in einen solchen mit guten Aufstiegs-/Weiterqualifizierungsmöglichkeiten.

 

5.

Eine absurde Anforderung: 

der Erwerb von Abschreibkompetenz

 

Lesen, merken, schreiben, kontrollieren: So oder so ähnlich soll die Abfolge beim Abschreiben erfolgen, vom Prinzip her unterscheiden sich die Konzepte der Verfechter des Abschreibens kaum. Unstrittig ist dass die Kinder das, was sie abschreiben sollen, sicher lesen können müssen. Bei Sommer-Stumpenhorst (in: Richtig Schreiben lernen von Anfang an, Berlin 2001) heißt es:

"Beim Abschreiben sollen die Kinder 

*Die Nummerierung wurde vom Autor dieses Aufsatzes vorgenommen.

Erläuterungen zur Praxis der von Sommer-Stumpenhorst vorgesehenen Prozedur des Abschreibens:

Zu Schritt 1:

Die Kinder müssen 

a.) das Wort (den Satz/Text) lesen 

Verständlicherweise ergeben sich dann weitere Probleme beim Lesen, wenn die vier lautsprachlichen Grundfertigkeiten (Artikulationssicherheit, Umfang/Qualität des Wortschatzes, Sprachgedächtnis, Sprachverstehen) sowie die Sprachwahrnehmungsleistungen (die optische, die phonematisch-akustische , die kinästhetisch-artikulatorische, die melodisch-intonatorische sowie die rhythmisch-strukturierende Differenzierungsfähigkeit) defizitär sind. (Siehe dazu auch Elternbrief Nr. 12!)

b.) und dabei auf den Unterschied zwischen der gesprochenen und geschriebenen Sprache aufmerksam werden.

Verglichen mit dem Kodieren der gesprochenen Sprache in die Schriftsprache ist das Recodieren im allgemeinen jedoch weniger problematisch. Dass jedoch Grundschulkinder z. B. in der zweiten oder dritten Klasse regelmäßig von sich aus beim Lesen bzw. Recodieren auch schon auf den Unterschied zwischen der gesprochenen und geschriebenen Sprache, also zwischen der gelesenen/gesprochenen Lautfolge und der geschriebenen Buchstabenabfolge, aufmerksam werden und diesen auch analysieren könnten, ist eine ziemlich abenteuerliche Annahme. Um das leisten zu können, bedarf es zunächst einmal phonologischer Grundkenntnisse, außerdem müssten diese Kinder bereits in hohem Maße über sprachanalytische Fähigkeiten und kognitive Strukturen verfügen, die sie nur über die eigene Auseinandersetzung mit der Schrift hätten erwerben können: Sie müssten über umfangreiche Schreib- und Leseerfahrungen verfügen. 

Grundsätzlich gilt, dass im Deutschen die Schrift  keineswegs die gesprochene Sprache abbildet, sondern diese lediglich interpretiert: Sie muss mit ihren lediglich 30 Graphemen (Zeichen/Buchstaben bzw. Graphemclustern z. B. sch) eine in die Tausende gehende Anzahl von Lauten schriftlich fixieren. Je nach regionaler Färbung unterscheidet man bis zu 4000 Laute (= Phone), die zu 40 'Lautklassen' (Klassen phonetisch ähnlicher Laute = Phoneme)  zusammengefasst und schriftlich dargestellt werden. Hinzu kommt, dass z. B. durch Dauervarianzen und Akzentvarianzen die Vielfalt an Lautvarianzen noch weiter vergrößert wird. (Für das Lesen weniger von Bedeutung, für die Verschriftung allerdings von erheblicher Relevanz ist die Tatsache, dass im Deutschen lautliche Merkmalstrukturen oft in mehrfacher Weise verschriftet werden können [a - aa - ah/x - ks - cks - gs - chs/etc.]). 

Umgangssprachlich oder/und dialektal bedingt kommt es beim lauten Lesen zu unzähligen Schwierigkeiten, von denen hier jedoch nur einige wenige erwähnt werden. Problemverursachend gehören dazu u. a. Assimilationen (Lautanpassungen), Elisionen (Lautweglassungen), Epenthesen (Einfügung von Segmenten), Koartikulationen (jeder Vokal ändert seine Qualität, je nachdem welcher Konsonant vorausgeht oder folgt). Wie wenig deutlich und orientiert an gesprochenem Standardhochdeutsch - einer Idealvorstellung - Kinder lesen und sprechen, lässt sich unschwer vor Ort in den Grundschulen beobachten:

 Der Phonologe Prof. Dr. Johannes Schwitalla dazu: "Schriftliche Texte in einer Buchstabenschrift legen die  Ansicht nahe, wir würden auch beim Sprechen einen Laut nach dem anderen hervorbringen und jeder Laut  sei an einer anderen Äußerungsstelle mit sich selbst identisch. In Wirklichkeit beeinflussen sich aber  nacheinander gesprochene Laute. Jeder Vokal ändert seine Qualität, je nachdem welcher Konsonant  vorausgeht oder folgt." (Prof. Dr. Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch, Berlin 2006)  

Auch alles sog. 'Dehnsprechen' (Pilotsprache) wird nicht weiter helfen, und alle Lehreranweisungen wie 'Du musst noch deutlicher sprechen!' sind ziemlich unsinnig: Und wenn das Kind auch noch so langsam und deutlich spricht,  so spricht es dennoch weiterhin, wenn es das Wort 'Amt' lesen soll, > [a-m-p-t] oder auch in Dehnsprache [a:-m-p-t]< - und wir täten es auch. Schon beim Lesen eines Wortes sollen die Kinder (Erst-/Zweit-/Drittklässler!) auf den Unterschied zwischen der gesprochenen und geschriebenen Sprache aufmerksam werden, Beispiel 'Vogelkäfig':

Eine Aufgabe für Studenten mit zumindest elementaren Grundkenntnissen in der Phonologie!

Selbstverständlich hilft auch alles noch so gedehnte und deutliche Sprechen erst recht dann nicht weiter, wenn es um Schreibungen geht, die sich ursprünglich einmal am phonematischen Prinzip orientierten,  die aber später durch andere Prinzipien wie das morphematische Prinzip, das historische Prinzip, das grammatikalische Prinzip, das semantische Prinzip und das ästhetische Prinzip überformt wurden. (Ch. Klicpera/B. Gasteiger Klicpera: Psychologie der Lese- und Schreibschwierigkeiten, Weinheim 1998) 

Prof. Agi Schründer-Lenzen warnt zurecht davor, sich als Lehrerin damit zu begnügen, Kinder immer wieder aufzufordern, deutlicher zu sprechen und genauer hinzuhören, denn: Lernfortschritte seien so nicht zu erwarten. (Prof. Dr.  Agi Schründer-Lenzen: Schriftspracherwerb und Unterricht, Opladen 2004)

Zu Schritt 2:

Die Kinder sollen 

sich das Wort merken und aus dem Gedächtnis aufschreiben, also nicht Zeichen für Zeichen kopieren.

Die Kinder müssen sich das Wort merken,  bisweilen heißt es auch, wie z. B. bei Sommer-Stumpenhorst: Sie müssen es sich 'einprägen'. Was jedoch sollen sich die Kinder wie 'einprägen'? Das nämlich lassen die Verfechter des Abschreibens im Dunklen: So tot scheint die Wortbildtheorie denn eben auch wieder nicht zu sein, wenn von einer Methodik des Abschreibens die Rede ist! Das vermutet allerdings auch der Deutschdidaktiker Prof. Dr. Jakob Ossner (in: Geschichte der Didaktik des Rechtschreibens. In: Ursula Bredel, Hartmut Günther, Peter Klotz, Jakob Ossner, Gesa Siebert-Ott [Hrsg.]: Didaktik der deutschen Sprache, Bd. 1, Paderborn 2003). Besonders verräterisch dabei: Der Terminus 'einprägen' war bei allen Wortbildtheoretikern gleichgesetzt mit dem Einprägen eines Wortbilds. Was aber könnte heute damit gemeint sein? Es ist kaum vorstellbar, dass Sommer-Stumpenhorst, der verbal die Wortbildtheorie ablehnt, im Ernst daran denkt, dass ein Zweitklässler 

anschließend auch noch die Schreibung mit der korrekten Buchstabenabfolge {V-o-g-e-l-k-ä-f-i-g} mittels Befehls "Das musst du dir einprägen!" aus dem Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis befördern könnte. Nun soll das Kind anschließend die Buchstabenabfolge  {V-o-g-e-l-k-ä-f-i-g} aus dem (Langzeit-!) Gedächtnis abrufen (wo sie gar nicht angekommen sein kann) und aufschreiben können: Dabei kann nicht viel mehr als eine Wortruine herauskommen!

Denn: Das Arbeitsgedächtnis und das Langzeitgedächtnis sind nämlich nicht so etwas wie hintereinander geschaltete Kästchen, und es ist geradezu naiv anzunehmen, man könne per Befehl  "Das musst du dir einprägen!" Behaltenswertes ins Langzeitgedächtnis schicken, um es dort für alle Zeit abzuspeichern und ständig abrufbar bereitzuhalten. Das  Arbeitsgedächtnis erlaubt uns lediglich, für wenige Sekunden mit etwa höchstens bis zu 7 Elementen (etwa Ziffern, Buchstaben, ...) geistig zu hantieren, bevor diese dann wieder 'verloren gehen'. Erst das  Wiederholen, das intensivere Befassen mit Inhalten hinterlässt Spuren im Gedächtnis: Je intensiver und öfter, desto geringer ist die Vergessensquote. Wenn etwas im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, ist damit gemeint, dass eine große Verarbeitungstiefe erreicht wurde: Per Befehl geht das ganz sicher nicht. Das hätten Sommer-Stumpenhorst und die Verfasser der neuen Richtlinien z. B. auch bei Prof. Dr. Manfred Spitzer (in: Lernen, Heidelberg-Berlin 2002) nachlesen können. Auch dieses Mal gilt wieder: Von solider Wissenschaft mag  sich Sommer-Stumpenhorst offenbar nur ungern die Produkte seines Collishops zerfasern lassen. 

Zu Schritt 3:

Die Kinder sollen 

beim Schreiben mitsprechen und damit ein inneres Vokabelsystem aufbauen. 

Diese noch mehr exotische als waghalsige Behauptung wird erwartungsgemäß durch die in Frage kommenden Forschungsbereiche durch nichts belegt.  In der Praxis sollen diese Schritte folgendermaßen ablaufen, wir bleiben zunächst bei dem Wort 'Vogelkäfig':

Oder:

Zu dieser Anweisung zu Schritt 3) sind weitere Kommentare überflüssig: Wir haben es hier schlichtweg mit Unfug zu tun, erst recht, wenn es um die ziemlich schlichte Annahme geht, Kinder könnten mittels dieser kuriosen Prozedur "ein inneres Vokabelsystem aufbauen". War Sommer-Stumpenhorst nicht ursprünglich mit der Botschaft angetreten, den Kindern die Konstruktionsprinzipien der Rechtschreibung beizubringen? Mit seinen neuen Postulaten folgt er exakt den einstigen Verfechtern der Wortbildtheorie. 

Schon in der ersten Klasse könnten allerdings pfiffige Kinder auf die Idee kommen, dass da irgendetwas nicht stimmt. Im Unterricht nach Sommer-Stumpenhorst (auch nach Tinto oder Reichen) werden die Kinder oft bis Ende der dritten Klasse auf die Formel "Schreib, wie du sprichst!" eingeschworen. Wenden die Kinder beim Schreiben "aus dem Gedächtnis" diese Formel an, also  gedehntes Sprechen und parallel dazu verlaufendes Schreiben, werden sie bald erkennen, dass - fast in der Regel -  ihr Tun zum Scheitern verurteilt ist [Erläuterungen dazu oben unter Zu (1)/Schritt 1/b.]. 

Beim Lesen der Einlassungen Sommer-Stumpenhorsts zum Thema 'Abschreiben' kommt der Leser oft aus dem Staunen nicht heraus. Zwei weitere Beispiele:

"Erinnern Sie sich, wie Sie früher die Vokabeln einer Fremdsprache gelernt haben? Schwierig zu schreibende Wörter haben wir uns meist als Lautfolge gemerkt (z. B. k-n-o-w-l-e-d-g-e). Genauso können sich Kinder auch Abweichungen von der Laut-Buchstaben-Beziehung merken." (Homepage der 'Rechtschreibwerkstatt' von Norbert Sommer-Stumpenhorst: Mitsprechen einüben. 15.01.2007)

Ohne jeden Zweifel ist 'k-n-o-w-l-e-d-g-e'  keine Lautfolge, sondern eine Buchstabenabfolge. Der Vokabellerner merkt sich beim Lernen jedoch, 

wie er das Wort, wenn es ein deutsches wäre, lesen und 'lautgetreu' schreiben würde, nämlich als [knɔvledgɘ]. Die Abfolge von 9 Elementen  {k-n-o-w-l-e-d-g-e} auf Dauer zu behalten ist nicht nur für einen Lernanfänger der englischen Sprache ziemlich unmöglich, sich das eine Element [knɔvledgɘ] zu merken ist hingegen völlig unproblematisch.

Gleiches gilt z.B. auch für 'Wednesday' und 'parliament':

Noch abwegiger ist wohl auch diese Sichtweise:

"Es kommt entscheidend darauf an, dass das Kind genau den Buchstaben spricht, den es gerade schreibt. Soll das Kind z.B. das Wort Auto schreiben, dann spricht es <a> und hält den Laut so lange, bis es den Buchstaben “A” geschrieben hat, dann <u> - <t> - <o>." (Homepage der 'Rechtschreibwerkstatt' von Norbert Sommer-Stumpenhorst: Mitsprechen einüben. 15.01.2007)

Wie absurd diese Anweisung ist, zeigt sich, wenn man beispielsweise mit den Wörtern 'Haut' und 'Laut' ebenso verfahren würde: <H> - <a> - <u> - <t>  und  <L> - <a> - <u> - <t>. 

Es ist völlig unsinnig und falsch, den Diphtong 'au' aufzulösen. Das hätte zudem Auswirkungen auf das silbische Sprechen und (evtl.) auch auf die schriftliche Silbentrennung:

Welchen Nutzen das Mitsprechen beim Niederschreiben erbringen soll, wenn es um Schreibungen geht, die sich zwar ursprünglich einmal am phonematischen Prinzip orientierten,  später aber durch andere Prinzipien wie das morphematische Prinzip, das historische Prinzip, das grammatikalische Prinzip, das semantische Prinzip und das ästhetische Prinzip überformt wurden, bleibt völlig rätselhaft. Es ist also völlig unsinnig zu fordern, dass ein Kind die vorher gelesene Lautfolge [ˈfo:ɡlˈkɛ:fɪç] langsam sprechend per Dehnsprache in die Lautfolge [ˈfo:ɡɛ:lˈkɛ:fɪç] umsetzt und parallel dazu aus dem (Langzeit-) Gedächtnis - wo sie nie angekommen ist - die Buchstabenabfolge {V-o-g-e-l-k-ä-f-i-g}  aufschreiben soll, die sich aus den beiden vorausgegangenen Schritten nicht ableiten lässt.

Zu Recht macht der Phonologe Prof. Dr. Utz Maas (in: Orthographie und Schriftkultur. (Nicht nur im Deutschen). Universität Osnabrück: Arbeitsskript zur Vorlesung im SS 2003) auf die ursprüngliche Aufgabe der Orthographie aufmerksam, dem Leser eine Leseorientierung zu geben. Das heißt nichts anderes, als dass die Regularitäten der Schrift nicht für das Schreiben (wie es die Maxime „Schreib, wie du sprichst“ suggeriert), sondern für das Lesen entwickelt worden sind, mit dem Ziel, einem Leser Anweisungen für das Dekodieren eines Textes zu geben: Eben daraus entwickelt sich auch die Problematik des Verschriftens von Gesprochenem.

Zu Schritt 4:

Die Kinder sollen 

das Geschriebene noch einmal überprüfen, um so von Anfang an auf das richtige Abschreiben zu achten. "

Dass Kinder alles, was sie geschrieben haben, noch einmal überprüfen sollen, ist selbstverständlich. Mit Hilfe dieser von Sommer-Stumpenhorst vorgesehenen Abschreibprozeduren, für die er seine über die Maßen teuren Abschreibtexte und den Modellwortschatz zusätzlich zu seinem Unterrichtswerk anbietet und verkauft, kann allerdings wohl kaum irgendeinen Zuwachs an Rechtschreibkompetenz erzielt werden. Zudem: Auf ihre Art 'output- orientiert' arbeitende Kinder, die umfangreiche Wortlisten und Texte abzuschreiben haben, entwickeln schon in frühen Grundschuljahren Fähigkeiten, - jenseits aller Vorgaben - erstaunliche Abschreibergebnisse zu erzielen: Das muss dann absolut nichts mit Rechtschreibkompetenz zu tun haben (siehe oben: Tabelle A-1: Angaben zum schriftsprachlichen Leistungsstand und Gründe für die Förderschulempfehlung laut sonderpädagogischem Beratungsgutachten).  

Stellen wir uns vor: Wie gefordert - sollen Kinder in der aufgezeigten Manier Texte abschreiben!  

 

   6.  

 Groteske Abschreibtechniken bringen Grundschulkinder nicht weiter:

Kontrolltechniken, die Kinder lernen sollten

 

Dass nun gem. der neuen Lehrpläne in NRW  über die Vorgaben zum  Erwerb einer 'Abschreibkompetenz' ausgerechnet das Abschreiben, das schon im vorletzten Jahrhundert  die Anhänger der Wortbildtheorie als effektivste Übungsform ansahen, aus der Mottenkiste hervorgekramt werden soll, indiziert eindrucksvoll die Ignoranz und mangelnde Kompetenz der  nordrhein-westfälischen Lehrplan-Autoren, die sich bei der Formulierung von Zielen ganz offensichtlich eher an derzeit gefeierten abstrusen Patchwork-Vorstellungen zum Anfangsunterricht orientieren als sich von modernen abgesicherten Schriftspracherwerbstheorien, die auch die linguistischen Forschungsergebnisse in die aktuelle Schriftspracherwerbsforschung einbeziehen, leiten zu lassen.

Noch einmal die Frage: Wozu eigentlich könnte eine Abschreibkompetenz dienen? Vom ersten Schultag an sollten Kinder in der Grundschule mit dem Erlernen 'des rechten Schreibens' befasst werden, um Rechtschreibkompetenz zu erlangen, dann hätte sich die Frage der Abschreibkompetenz wie von selbst erledigt, denn: Nur wer Rechtschreibkompetenz besitzt, kann auch fehlerfrei Texte abschreiben. Die von Sommer-Stumpenhorst vorgesehene Prozedur führt indes zu nichts.

Geht es darum, in Abschreibtexten Wörter auf ihre Schreibung zu untersuchen, ist der von Sommer-Stumpenhorst et al. vorgesehene Ansatz ganz sicher in keiner Weise geeignet. 

Schon seit Jahren gibt es von Seiten der Linguistik immer wieder bedeutungsvolle Signale an die derzeitige Schriftspracherwerbsdidaktik, die unmissverständlich darauf hinweisen, dass in unserer Alphabetschrift nicht bzw. nicht nur die phonetischen Verhältnisse des Gesprochenen, sondern primär phonologisch-prosodische Strukturen abgebildet werden. (Prof. Dr. Utz Maas: Orthographie und Schriftkultur. [Nicht nur im Deutschen]. Universität Osnabrück: Arbeitsskript zur Vorlesung im SS 2003) In Anlehnung an Prof. Dr. Maas und Prof. Dr. Röber-Siekmeyer formuliert Mareike Stein in ihrer Diplomarbeit:

"Die kleinste den Kindern zugängliche Gliederungseinheit der gesprochenen Sprache ist die Silbe und nicht - wie sie die aktuelle Didaktik den Kindern präsentiert (vgl. Kap.6) - eine Segmentierung nach Lauten analog den Buchstaben. Bei ihren weiteren Analysen gehen sie von der Einheit Silbe aus und isolieren dabei zunächst Anfangsrand und Reim. Ziel didaktischer Modellierungen, die Kinder „abholen“ möchten, muss es sein, die prosodischen Merkmale der Sprache, die die Kinder wahrnehmen, zum Ausgangspunkt der Analysen zu machen. Diese müssen ihnen im und durch den Umgang mit Schrift bewusst gemacht werden. Nur so können sie die Strukturen der gesprochenen Sprache, die die Schrift repräsentiert, entdecken. Ausgang ist dabei die Silbe, die den Kindern intuitiv zugänglich ist."  (Mareike Stein: Orthographisches Wissen von HauptschülerInnen und seine Abhängigkeit von der unterrichtlichen Präsentation des Lautung-Schrift-Verhältnisses in der Grundschule (Diplomarbeit), Freiburg 2003)

Danach ermöglicht die silbenphonologische Darstellung von U. Maas auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse der gesprochenen Sprache einen anderen Blick auf den Bereich der Orthographie. 

"Ausgehend von der Grundannahme der Fundierung der Schriftsprache in der gesprochenen Sprache sieht Maas (1992) die Grundlage für die Analyse nicht primär – wie er es nennt - in den „lokalen Eigenschaften“ der Laute, sondern in den „globalen Eigenschaften“, d.h. den prosodischen Strukturen von Wörtern wie Betonung und Silbenstruktur mit den entsprechenden Anschlussverhältnissen. Rechtschreibung wird strukturierbar und systematisierbar, wenn neben ihrer Fundierung in der Laut-Buchstaben-Beziehung (lokale Ebene) primär phonetischphonologische Eigenschaften wie Silbenschnitt und Prosodie (globale Ebene) betrachtet werden.  (Mareike Stein: Orthographisches Wissen von HauptschülerInnen und seine Abhängigkeit von der unterrichtlichen Präsentation des Lautung-Schrift-Verhältnisses in der Grundschule (Diplomarbeit), Freiburg 2003)

Abschreibübungen haben de facto eher stillbeschäftigenden Charakter und führen zu nichts, außerdem kann  auf dem oben beschriebenen Wege auch keine brauchbare und jederzeit verfügbare Technik zur Wortkorrektur sowie insgesamt zur Verbesserung der Rechtschreibkompetenz erworben werden. Eine leicht erlernbare und mit teilweise hoher Effektivität von Anfang an anwendbare Technik, Wortschreibungen zu untersuchen, ist die Betrachtung der phonetischphonologischen Eigenschaften wie Silbenschnitt und Prosodie. Die kleinste den Kindern zugängliche Gliederungseinheit der gesprochenen Sprache ist nämlich die Silbe und eben nicht eine Segmentierung nach Lauten analog den Buchstaben. Bereits im Vorschulalter sind Kinder fähig, Gesprochenes in Takte und Silben zu teilen. Mit Hilfe von silbenanalytischen Techniken können Kinder ein erstes Kontrollwissen für ihre Schreibungen erwerben, da die normale Artikulation der Kinder und nicht eine Kunstsprache zur Grundlage gemacht wird. Entsprechende didaktische Modellierungen stellt Prof. Christa Röber-Siekmeyer (Freiburg) in ihren zahlreichen Veröffentlichungen vor. Auch die Professoren Ch. Klicpera/B. Gasteiger Klicpera (Psychologie der Lese- und Schreibschwierigkeiten, Weinheim 1998) weisen mehrfach auf Untersuchungen hin, die belegen, dass gerade schwache Rechtschreiber mit Hilfe silbenanalytischer Techniken ihre Rechtschreibleistungen teilweise erheblich verbessern konnten. 

Zu Recht warnt der Grundschuldidaktiker und Fibelautor Wilfried Metze jedoch vor allzu großer Euphorie, wenn es um die Anwendung und  Leistung silbengliedernder/silbenanalytischer Techniken geht.  (http://www.wilfriedmetze.de/html/strukturen.html/29.05.2008) Wie etliche Leselehrgänge nehmen zudem auch Lehrerinnen/Lehrer die Unterschiede zwischen Sprechsilbe und Schreibsilbe nicht durchweg zur Kenntnis, und dass Morpheme etwas ganz anderes sind als Silben, ist wohl auch nicht durchgängig selbstverständlich.

  • 'Liebe Sonne, scheine!' in Sprechsilben, wie schreibunkundige Kinder im Kindergartenalter sie intuitiv sprechen: > Lie-be So-nne, schei-ne! (Erst das schreibkundige Kind wird später 'Son-ne' sagen können. Wie auch in 'rennen', 'Wasser', ... werden tatsächlich solche Doppelkonsonanten nicht auch als zwei Konsonanten gesprochen. Diese Fiktion gilt nach der neuen Rechtschreibung z.B. nicht mehr für 'ck', heute gilt also anstatt 'Dek-ke' > 'De-cke'.)

  • 'Liebe Sonne, scheine!' in Schreibsilben, wie wir sie im Duden finden: > Lie-be Son-ne, schei-ne!

  • Die Morphemgliederung z. B. für 'scheine' ergibt > schein-e, für 'scheint' > schein-t, für 'scheinen' > schein-en

Beim Erlernen des Lesens und der Schreibens kann die Silbengliederung/-analyse zunächst durchaus hilfreich sein, die Möglichkeiten sind freilich begrenzt.

Forderungen von Seiten der Sprachdidaktik, der Morphemgliederung schon im Anfangsunterricht eine größere Bedeutung beizumessen, bleiben leider bisher noch weitgehend unbe-rücksichtigt. Wilfried Metze dazu: "Dennoch müsste dem Morphem eine weit größere Bedeutung als bisher auch im Anfangsunterricht zugestanden werden. So könnten sich wesentlich einfacher und schneller Schreib-Schemata entwickeln. Die Morphemkonstanz erleichtert den Aufbau derartiger Muster." ( http://www.wilfriedmetze.de/html/strukturen.html/29.05.2008)

Um Wörter auf ihre Schreibung hin abzutasten, ist die z. B. bei Sommer-Stumpenhorst im Rahmen seiner Abschreibübungen praktizierte Abschreibtechnik völlig untauglich. Dieses Ziel zu erreichen bedarf es hingegen eines gesicherten Repertoires an Kontroll-/Untersuchungs-/Lösungstechniken - die schon bald im Anfangsunterricht schrittweise einzuführen und zu trainieren wären:

Der Gebrauch eines Wörterbuchs kann schon ab der ersten Klasse die herausgefundenen Ergebnisse absichern, zunehmend wird dann in den folgenden Schuljahren - neben den frühen Kontroll-/Untersuchungs-/Lösungstechniken - auch schon orthographisches Wissen als gesichertes Kontrollwissen eingesetzt werden: Darauf kann nun einmal trotz allen Geredes nicht verzichtet werden.   

Die Annahme, solche Techniken ließen sich mit Hilfe von Abschreibtexten und an Hand von Kärtchensystemen in sog. individualisierender Einzelarbeit  eigenaktiv und selbstgesteuert erarbeiten und sicher einüben, wäre absurd. 

7.

    Fazit: Eltern und Kinder sind wieder einmal die Dummen

Wer im Düsseldorfer Schulministerium den Einfall hatte, mit den neuen zum Schuljahr 2008/09 in Kraft tretenden Lehrplänen für die Grundschule dem Erlernen des Abschreibens  besondere und herausragende Prioritäten einzuräumen, ist nicht bekannt. Der insbesondere für seinen ausgeprägten Geschäftssinn bekannte Schulpsychologe Sommer-Stumpenhorst preist in seinem Internet-Auftritt jedenfalls schon lange die besonderen Heilswirkungen der Übungsform des Abschreibens - und das tut er, wie wir jetzt wissen, im abgesicherten Modus: Just zum nächsten Schuljahr 2008/09, ab dem nach den neuen Lehrplänen gearbeitet werden soll, kann dessen Collishop Abschreibtexte für die Grundschulzeit mit den entsprechenden Handlungsanleitungen für Lehrer zum Preis von € 43 anbieten. Ein ehemaliger Schulamtsdirektor vermutet zur derzeitigen Entwicklung in NRW: "Die Grundschul-Lehrpläne in NRW eröffnen neue Einfallstore für die Arbeitsmaterialien findiger Geschäftemacher." Dass bei der von Sommer-Stumpenhorst vorgegebenen Praxis Kinder mit Abschreibtexten abgefüttert werden, die zwangsläufig ohne jeglichen situativen Kontext und fern der jeweils aktuellen unterrichtlichen Thematik entstanden sind, sei nur am Rande erwähnt - von der Jüngerschaft  Sommer-Stumpenhorsts wird dies wohl auch durchaus  nicht als Schwäche des Konzepts empfunden. 

Bis vor kurzem noch wurde Sommer-Stumpenhorst nicht müde, im Chor mit vielen wissenschaftlich orientierten Fachdidaktikern die Wortbildtheorie vehement und wortreich abzulehnen. Mit nebulöser Argumentation widmet nun ausgerechnet er  dem Abschreiben, das einst im vorletzten Jahrhundert, da die Wortbildtheorie den Anfangsunterricht prägte, wichtigster Stützpfeiler beim Erlernen des Schreibens war, ein teures Schulpaket. Dass Sommer-Stumpenhorst seine Abschreibtexte auch als Diktattexte anpreist, wen wundert es. Besonderes Erstaunen erzeugt seine konkurrenzlos exotische Behauptung: "Eine Variante des Abschreibens ist das Partnerdiktat." (Norbert Sommer-Stumpenhorst: Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten: vorbeugen und überwinden, Berlin 2006)  Kaum von anderer Qualität ist eine der dazugehörigen Arbeitsanweisungen: "Diktiere so, dass dein Partner mit Sicherheit richtig schreibt." (Norbert Sommer-Stumpenhorst: Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten: vorbeugen und überwinden, Berlin 2006) Wie schon erwähnt: Solche Forderungen sind selbstverständlich erst recht völlig töricht für Schreibungen, die sich zwar ursprünglich einmal am phonematischen Prinzip orientierten,  später aber durch andere Prinzipien wie das morphematische Prinzip, das historische Prinzip, das grammatikalische Prinzip, das semantische Prinzip und das ästhetische Prinzip überformt wurden. 

Insgesamt zeigt sich, dass insbesondere die von Sommer-Stumpenhorst vorgeschlagene Praxis der Abschreibübung völlig falsch und für Kinder unpraktikabel ist. Leser mit Anfängerkenntnissen im Schreiben einer fremden Sprache* sollten sich im Eigenversuch einmal dieser Abschreibprozedur für einen etwa 120 Wörter langen Text unterziehen.

* Bei dieser Sprache sollte es sich nicht - wie beim Italienischen, Finnischen oder Serbokroatischen - um eine   Sprache  mit ziemlich regelmäßiger Phonem-Graphem-Korrespondenz handeln.

In NRW wird die flächendeckende Einführung der flexiblen Schuleingangsphase (JÜL) mit jahrgangsübergreifendem Unterricht ( Klassen 1/2/[3]) vorbereitet (Siehe dazu im 'Archiv' den Aufsatz: Die neue Schuleingangsphase in NRW - ein schulministerielles Experiment an und mit Grundschulkindern  >>> Die neue Schuleingangsphase in NRW !). In den dann zu erwartenden großen Klassen - mit neuerdings in NRW 'nur noch' bis zu 30 Kindern - sind Selbstlernkonzepte mit den unterschiedlichsten  Stillbeschäftigungsaufgaben zur Abwicklung des Unterrichts geradezu unverzichtbar:

Besonders LehrerInnen, die nach  der Rechtschreibwerkstatt (Sommer-Stumpenhorst), nach Tinto oder 'Lesen durch Schreiben' (Reichen) unterrichten, setzen schon jetzt zum Verdruss vieler Eltern - und Kinder - vermehrt Abschreibübungen ein. Es darf vermutet werden, dass sie auf diese Weise einerseits per Stillbeschäftigung die methodisch  verursachten Minderleistungen (bedingt durch das Konzept 'Lesen durch Schreiben') auszugleichen versuchen und sie andrerseits mit Hilfe der aus den Abschreibübungen gewonnenen 'verbesserten' Ergebnisse die Möglichkeit sehen, die Rechtschreibnoten der Kinder nach oben hin zu 'korrigieren'. Für den Fall, dass auch das alles nicht weiterhilft, muss dann eine Argumentation J. Reichens herhalten, in der dieser der Rechtschreibung heute nur noch eine eher untergeordnete Bedeutung zumisst: Sie sei kein "wirklich nützliches, die kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Weiterentwicklung beflügelndes Können [...]. Rechtschreibung ist ein totes Buchstabenwissen, das nur einer Bürokratenmentalität Vorschub leistet." (Dr. Reichen, Rechtschreibung - Funktion und Didaktik, Bad Oldesloe, Januar 1997). Man muss folglich nicht über Reichens Konzept 'Lesen durch Schreiben' und über das, was es leistet, verwundert sein. Dagegen wirkt Sommer-Stumpenhorsts Formulierung seines Standpunktes geradezu blass: "Schreibenkönnen ist nach wie vor wichtig! Aber es gibt Wichtigeres als die Rechtschreibung." (Norbert Sommer-Stumpenhorst: Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten: vorbeugen und überwinden, Berlin 2006)

In Elternbrief Nr. 2 hieß es seinerzeit:

Spätestens während oder nach der 2. Klasse sollte schlüssig geklärt sein, welche Kinder Schwächen aufweisen und wie sie individuell am effektivsten gefördert werden können. 

Was tun also?

Immer wieder berichten Eltern, wie sie sich bzw. ihren Kindern rechtzeitig selber zu helfen versuchen:

  • Sie fragen in Buchhandlungen um Rat nach seriösen Unterrichtsmaterialien und erwerben solche. Dort werden tatsächlich solche Materialien in schier  unübersehbarer Fülle angeboten. An Nachmittagen sowie an den Wochenenden übernehmen sie dann die eigentlichen Aufgaben der LehrerInnen ihrer Kinder: ihnen Kindern das Rechnen, Schreiben und Lesen beizubringen. 

Ihre Alternative:

  • Zunehmend schicken Eltern schon ab Klasse 1 ihre Kinder zur Nachhilfe in die Nachhilfeinstitute.

 

8.

"Rechtschreibwissen ist Herrschaftswissen"

Ein Slogan der 68er und seine Folgen 

Lehramtsstudenten jedweden Lehramts trugen Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre, beifallheischend und - selber wohl auch auf Arbeitserleichterung hoffend ('das Schulmeisterkreuz mit der Rechtschreibung' !), den Slogan "Rechtschreibwissen ist Herrschaftswissen" in die Schulen: Alles Rechtschreibwissen sei als elitäres Wissen zu verabscheuen, da es schon immer als Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse missbraucht werde. Zu lautstarken Diskussionen kam es mancherorts zwischen ihnen und den Altgedienten, die dem neuen Trend in keiner Weise zustimmten und  den Rechtschreibunterricht partout nicht auf ein Minimum beschränken wollten. 

In einem gewissem Sinne hatten die 68er mit ihrer flotten Parole allerdings schon Recht, nur zogen sie ganz sicher daraus die falschen Schlüsse: 'Wissen' bedeutete schon immer auch 'Macht', wie der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon (1561-1626) bereits zu Anfang des 17. Jahrhunderts konstatierte. Das galt und gilt wohl auch für die Kompetenz, richtig schreiben und lesen zu können. Die besondere Bedeutung der  Schriftkompetenz  schon in alter Zeit beschreibt der Sprach- und Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Peter Stein (Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Lesens und Schreibens. Darmstadt 2006) und zeigt, dass es schon immer so war - wie es wohl auch heute noch bzw. schon wieder ist:

"Schriftkompetenz war eine Spezialfähigkeit, die zur Herrschaftsausübung gehörte und deswegen Eliten vorbehalten war. So betrachtet hat die Fähigkeit zur Schriftnutzung den Effekt gehabt, Herrschaft zu erhalten und zu erhöhen. Der französische Ethnologe C. Lévi-Strauss ging sogar so weit zu behaupten, »daß die Schrift zunächst der Ausbeutung des Menschen diente, bevor sie seinen Geist erleuchtete.« (Zit. nach Kuckenburg (1989), S. 220.) Dieses Interesse ist nicht zu bestreiten, zumal unverkennbar ist, dass im Schreiben immer ein Fest-Schreiben wirkt, das Schrift zur Vorschrift werden lässt und die Texte in ihrer kanonischen Funktion zur Geltung bringen will." 

Es wird so bleiben: Schriftkompetenz ist auch heute weiterhin ein bedeutendes Instrument der Herrschafts-/Machtausübung - in allen möglichen, auch in halbprivaten und sogar in privaten Lebensbereichen. Schon Anträge, Verträge, Ankündigungen, Aufforderungen etc. wird der eher weniger lesekompetente Leser - zu seinem Schaden - oft nicht verstehen können oder missdeuten. Geht mit einer defizitären Lesekompetenz eine mangelhafte bzw. unzureichende Formulierungs- und Rechtschreibkompetenz einher - was in der Regel der Fall ist - , findet sich der auf diese Weise in seiner Sprachhandlungskompetenz Restringierte schon bald in der - je nach Fall und Situation unterschiedlich ausgeprägten - Verliererrolle. Man weiß, dass Menschen, die in ihrer Sprachhandlungskompetenz Defizite haben, oft genug ihre Rechte nicht wahrzunehmen imstande sind oder aus Scham darüber, jemand könne sich über ihre schriftlichen Einlassungen belustigen, darauf verzichten. Schon zu Zeiten der industriellen Revolution im vorletzten Jahrhundert initiierten über Jahrzehnte hinweg Arbeitervereine und Arbeiterbildungsvereine, aus denen später die SPD hervorging - teilweise in Sonntagsschulen - Bildungsmaßnahmen für die in der Regel nur wenig gebildeten Industriearbeiter:  schwerpunktmäßig auch Schulungen zur Erweiterung der Schreib-/Lesekompetenz. Das angestrebte Ziel war eine aufgeklärte mündige Arbeiterschaft, die ihre Situation zu durchschauen imstande war sowie reif und fähig sein sollte, sich auf friedlichem Wege aus ihren Fesseln zu befreien sowie für die Errichtung einer Demokratie zu kämpfen und diese mitzutragen. 

Dass während der letzten Jahrzehnte ausgerechnet in von der SPD geführten Ländern eine Schulpolitik gemacht wurde, die nicht nur ganz allgemein der Bildung lediglich einen geringen Stellenwert einräumte, sondern auch die Bildungsansprüche hunderttausender Benachteiligter mit den unterschiedlichsten Handikaps sowie  unterprivilegierter Kreise ignorierte, ist skandalös. Der Anteil der benachteiligten Kinder wächst derzeit um viele Kinder aus der Mittelschicht weiter an: 

  • Eltern haben wegen der wachsenden beruflichen Belastungen immer weniger Zeit, zu Hause mit ihnen die schulisch verursachten Defizite aufzuarbeiten, 

  • oft haben sie  auch nicht das Geld, ihre Kinder in die Nachhilfeinstitute zu schicken, 

  • sie verdienen erst recht nicht genug, ihnen den Besuch einer Privatschule zu ermöglichen.

Unsere inzwischen zur Wirtschaftsdiktatur verkommene Demokratie billigt ganz offensichtlich, dass zunehmend auch in Sachen Bildung sich die Gesellschaft dramatisch auseinander entwickelt. Dass sie dabei jeglichen Weitblick vermissen lässt, wird sich ohne jeglichen Zweifel schon in nicht allzu ferner Zukunft rächen. Wenn wir  die schulpolitischen Maßnahmen etlicher Bundesländer im Einzelnen näher betrachten, können wir unschwer den Schluss ziehen, dass Landespolitiker die Vorreiter bei solchen Entwicklungen sind. Hinzu kommt, dass inzwischen die Wirtschaft und, von dieser in den Würgegriff genommen, die Politik Hand in Hand miteinander marschieren und sich, je nach Möglichkeit und auf ihre Weise, arbeitsteilig und mit einem umfänglichen Instrumentarium zur Infantilisierung und Verdummung eine in weiten Teilen entmündigte und für ihre Zwecke brauchbare Gesellschaft modellieren.       

Zurück zur Lese- und Rechtschreibkompetenz! In Deutschland gibt es derzeit 4 Millionen Analphabeten, trotz zahlreicher kostspieliger Alphabetisierungskampagnen steigt die Zahl weiter. Um ein Vielfaches ist die Zahl derjenigen größer, die - zu einem großen Anteil auch methodisch verursacht - über nicht-ausreichende Lesefähigkeiten  und Rechtschreibkenntnisse verfügen - hier ist die Tendenz sogar 'steil ansteigend'.         

Was den Slogan "Rechtschreibwissen ist Herrschaftswissen" anbetrifft: Der Spruch der 68er machte -  wie damals beabsichtigt - inzwischen Karriere, zunächst einmal nur in den Grundschul-Lehrplänen der SPD-regierten Bundesländer. Dass inzwischen die Geringschätzung der Rechtschreibkompetenz auch  von CDU-geführten Ländern forciert fortgeführt wird, ist ein Novum, Nordrhein-Westfalen - wie auch Hessen - machen den Anfang damit. 

 

J. Günter Jansen