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Elternbrief Nr. 7

 (06/06)

 

 

Die Diskussion um das Lehrerhasserbuch von Gerlinde Unverzagt mag nicht abreißen. Schade, dass sie ihre berechtigten Sorgen nicht auf der Sachebene diskutieren mochte und sich darüber hinaus einer Sprache bedient, mit der sie viele betroffene Eltern nicht erreichen wird. Ihre undifferenzierten Hasstiraden tragen zusätzlich dazu bei, sich selbst um ihre Chance zu bringen.

Eine der bekanntesten europäischen Grundschulpädagoginnen, Prof. Dr. Renate Valtin (Humboldt-Universität, Berlin), Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, gab allerdings in der Methodenfrage der Mutter Unverzagt ohne Einschränkung recht:  Sie hält die von ihr angegriffenen Methoden zur Individualisierung für so schädlich, dass sie vor solchen Spracherwerbsmethoden wie Lesen durch Schreiben, also Unterricht nach Sommer-Stumpenhorst, Tinto oder Jürgen Reichen, immer wieder öffentlich warnt. Auch hält sie nichts vom freien Schreiben, wie es nach der Methode  Lesen durch Schreiben bei Sommer-Stumpenhorst, Tinto oder Jürgen Reichen praktiziert wird: Dringend empfiehlt sie  das freie Schreiben nur in Verbindung mit der systematischen Arbeit mit Schlüsselwörtern sowie mit einem systematischen Fibelunterricht. 

 

 

 

„Freies Schreiben“ wie es bei Sommer-Stumpenhorst und Tinto praktiziert wird: eine üble Fehlentwicklung mit schlimmen Folgen

Sie verhindert über lange Zeit, dass Eltern dahinterkommen, wie wenig ihre Kinder in Wirklichkeit  lernen

 

 

Im Internet-Forum der Frankfurter Allgemeinen „FAZ.NET“ vom 06.02.2006 zieht Gus Holler nach der Lektüre des Lehrerhasserbuchs eben genau dieses Fazit wie Frau Unverzagt,  wenn es um die heutigen Spracherwerbsmethoden Schreiben/Freies Schreiben (Sommer-Stumpenhorst, Tinto oder Jürgen Reichen) geht:

 

„Der Frust der Autorin ist leicht nachvollziehbar - jedenfalls für solche Eltern, die im direkten Vergleich zweier Kinder die Auswirkungen eines Wechsels des schreibpädagogischen Dogmas plastisch und leidvoll miterleben durften.
Unglaublich- aber wahr, den nichtpädagogischen Erziehungsberechtigten wird tatsächlich jahrelang untersagt, auf korrekte Orthographie hinzuweisen (auch die Schulnote gibt keinen Hinweis auf Lerndefizite), um dann im 4. Jahr umso intensiver und notengestützt das Problem zu dokumentieren - jedoch ohne einen irgend erkennbaren pädagogischen Ansatz zur Behebung der antrainierten Schwäche.“

 

Bei einem Elternabend in einer hessischen Kleinstadt fiel erst kürzlich fast die gesamte Elternschaft der Viertklässler einer Grundschule aus allen Wolken: Die Lehrerinnen teilten den verdutzten Eltern mit, dass ihre Kinder auf den bald folgenden Notenzeugnissen der 4. Klasse ziemlich unterdurchschnittliche Zensuren in den Deutsch-Bereichen Lesen und Rechtschreiben zu erwarten hätten, es gebe große Lücken, besonders im Rechtschreiben. Mit den dann folgenden heftigen Reaktionen mancher Anwesender hatte aber wohl niemand gerechnet: Denn mehr als drei Jahre lang hatten die Lehrerinnen von den großen Fortschritten und den hervorragenden Lese- und Rechtschreibleistungen bei ihren Kindern geschwärmt – und jetzt das.  Er gab allerdings auch Eltern, die diesem - wie sich jetzt äußerten - abzusehendem Desaster rechtzeitig vorgebeugt hatten: Sie hatten den Unterricht im Lesen und in der Rechtschreibung selbst in die Hand genommen oder ihr Kind in den Nachhilfeunterricht geschickt. Besonderer Beifall galt an jenem Abend dann auch genau diesen Eltern, die lautstark verhinderten, dass sich die Lehrerinnen mit fremden Federn schmücken konnten: Sie erklärten nämlich den Anwesenden, dass sie es waren, die durch ihre privaten Maßnahmen ihre Kinder vor schlechten Leistungen bewahren konnten – und keineswegs die eigentlich verantwortlichen Lehrerinnen.

 

 

„ Richtig Schreiben lernen von Anfang an“

 

So lautet der Titel einer Schrift, mit der einer der drei Vertreter der untauglichen Spracherwerbsmethode in das Konzept einführt: Sommer-Stumpenhorst. Nein, das ist keine Verschreibung,verschrieben, das Verb „schreiben“ schreibt er wirklich so! Sehen wir darüber hinweg, das ist ein eher harmloser Rechtschreibfehler, von den unglaublichen Desinformationen wird erst jetzt die Rede sein.  (Inzwischen hat er zumindest in seiner Werbung diesen Fehler korrigiert.)

 

Schon die Dürftigkeit des Literaturverzeichnisses seines Büchleins gibt entlarvend darüber Auskunft, auf welch unsoliden Verhältnissen zu den Fachwissenschaften und zu den übrigen Feldern spezieller und allgemeiner Pädagogik das Unterrichtskonzept begründet ist: Nach plausiblen Bezügen zu wissenschaftlichen Begründungen für das  exotische Spracherwerbskonzept sucht der Leser vergebens. Aber befassen wir uns noch einmal mit dem Titel  „ Richtig Schreiben lernen von Anfang an“ (Verlag Cornelsen, Berlin 2001.) ! Zigtausende von Eltern mussten inzwischen erfahren, dass in Wirklichkeit ihre Kinder mit abstrusen Begründungen bis in die dritte Klasse hinein „Freies Schreiben“ praktizieren dürfen, nach dem Motto „Schreib wie du sprichst!“ (Lesen Sie bitte noch einmal in Elternbrief Nr. 3 nach, was Sommer-Stumpenhorst-Moderator Thomas dazu zu sagen hat!).  Das „Freie Scheiben“ gehört auch zum Konzept „Tinto“, doch darüber unten(¯) mehr! Uneingeschränkt richtig ohne Abstriche ist, was Gus Holler (oben­)  sagt: Die Folge ist eine antrainierte Rechtschreibschwäche, zu deren Behebung es keinen pädagogischen Ansatz gibt.





"Die Auswertungen der Lernstandskontrollen und die Arbeitsergebnisse zeigen, dass bei dieser Vorgehensweise alle Kinder einer Klasse zu Lernergebnissen kommen, die deutlich über den Anforderungen der Lehrpläne liegen."(Sommer-Stumpenhorst zu seiner Methode)

 

Angesichts der Ergebnisse der Marburger Studie (Siehe Anlagen zu Elternbrief Nr.1!) eine atemberaubende Behauptung im abgegriffenen Stil der Waschmittelwerbung! Sommer-Stumpenhorst und Urbanek (Tinto) dürften allerdings mit ihren Unterrichtswerken den wachsweichen Anforderungen

 

 

Pädagogen (gr.- lat. = Kinderführer) geben ihre Rolle auf: Die Kleinsten sollen auf der Reise in die Schriftsprache intuitiv von sich aus den richtigen Weg finden können. Der Schriftspracherwerb als Selbstläufer! Ein unsinniges Prinzip! Woher sollte ein Kind zum Beispiel wissen, auf welche Buchstaben es aus lernstrategischen Überlegungen zuallererst sein Hauptaugenmerk richten sollte? Und dann das Allerwichtigste im 1. Schuljahr: Es muss auf dieser für den Schriftspracherwerb bedeutsamsten Entwicklungsstufe, der alphabetischen Stufe,  lernen,  Phoneme den jeweiligen Graphemen zuzuordnen. Je nach regionaler Färbung unterscheidet man bis zu 4000 Laute (= Phone), die zu 40 "Lautklassen" (Klassen phonetisch ähnlicher Laute = Phoneme)  zusammengefasst werden und  mit 30 Graphemen (Zeichen/Buchstaben) bzw. Graphemclustern (z. B. sch) schriftlich dargestellt werden.  Einfacher: In der deutschen Sprache werden 4000 vorkommende Laute  mit Hilfe von nur 30 Zeichen/Buchstaben bzw. Graphemclustern schriftlich fixiert. Nach Sommer-Stumpenhorst - oder nach Tinto - unterrichteten  5- und 6-Jährigen sollen entsprechende Zuordnungsaufgaben mit Hilfe einer Anlauttabelle und gewisser Arbeitsmaterialien (z. B. Kärtchen) in Einzel- oder Partnerarbeit gelingen können.  Mit dieser Methode sollen sie eigenständig die wohl wichtigsten ersten Schritte ins Schreiben und Lesen tun. Insbesondere Migrantenkinder sind heillos überfordert, zumal dann, wenn sie  kaum die deutsche Lautung beherrschen und in einem Umfeld leben, in dem vorwiegend nicht Deutsch gesprochen wird.  Neben Prof. Dr. Valtin halten inzwischen die meisten Fachwissenschaftlicher (darunter Augst, Dehn, Eichler, Metze, Thomé,  Röber-Siekmeyer  et al.) den Vertretern der Gegenposition vor, bei der Methode  „Lesen durch Schreiben“/“Freies Schreiben“ mit Anlauttabelle werde den Kindern eine 1:1-Beziehung zwischen Lauten und Buchstaben vorgegaukelt. Sie befürchten zu Recht, dass sich als Folge bei den Kindern falsche Verschriftungsstrategien verfestigen, die kaum mehr abgebaut werden können. Brügelmann und Brinkmann sind derzeit die vehementesten Vertreter der Gegenposition, die sie allerdings bisher noch nicht dezidiert und schlüssig darstellen können. 

 

„Freies Schreiben“ - heute eine üble Fehlentwicklung

Wie den Kindern eine Rechtschreibschwäche antrainiert wird

 

 

Freies Schreiben? Das gab es schon einmal. Aber die Grundschulpädagogik ist offenbar nicht imstande dazuzulernen. Das freie Schreiben von heute hieß damals „Freier Aufsatz“. Heinrich Scharrelmann (Erlebte Pädagogik. Gesammelte Aufsätze und Unterrichtsproben. Hamburg: Janssen 1912) und Fritz Gansberg (Der freie Aufsatz. Seine Grundlagen und seine Möglichkeiten. Ein fröhliches Lehr- und Lesebuch. 3., verb. Aufl. Leipzig: Dürr 1926. – 1. Aufl. 1914) waren seinerzeit die Protagonisten der schulischen Innovation. So hieß es bei Scharrelmann schon vor fast 100 Jahren: „Die Kinder schreiben Geschichten auf, ohne Zwang, nur dem inneren Drange folgend, mit wilder Orthographie, mit einer Fülle grammatischer Fehler, mit einer Schrift, die nur die Schreiber selbst mitunter mit Mühe entziffern.“ Noch vor Ablauf des 2. Jahrzehnts im letzten Jahrhundert wurde diesem Konzept Einhalt geboten: Man hatte herausgefunden, dass man die Kinder nach  einer langen Phase orthographischer und grammatischer Beliebigkeiten kaum mehr an regelgerechtes Schreiben heranführen konnte und man auch keinerlei Möglichkeiten sah, die bereits eingeprägten Muster von Fehlschreibungen wieder zu korrigieren.  Genau das fand Prof. Dr. Renate Valtin, Leiterin der Abteilung Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität Berlin, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS), nach fast hundert 100 Jahren wiederum heraus: Sie sieht es als erwiesen an, dass Kinder, die bis weit in die Grundschule hinein – bis sogar ans Ende der 3. Klasse - unkorrigiert Texte nach dem Motto „Schreib wie du sprichst!“ schreiben dürfen, eine falsche Strategie erlernen, die sie sich später wieder mühsam abgewöhnen müssen – oft mit katastrophalen Ergebnissen (Tagesspiegel vom 02.02.2006) . Diese Position hat Prof. Dr. Renate Valtin - wie bisweilen fälschlicherweise behauptet wird - nie zurückgenommen.

 

 

„Freies Schreiben“ im Schulalltag

 

 

Der Methode „Lesen durch Schreiben“ folgt im modernen Schriftspracherwerbsunterricht stets die Methode „Freies Schreiben“. Das kennen Eltern mindestens aus den Klassen 1-3:

 

 

Fragen Eltern die Lehrerin ihres Kindes, ob sie nicht ihre Befürchtungen teilen könne,

 

 

 hören sie in aller Regel nach dieser Frage folgendes:

 

 

Exakt dies sind auch die Argumente der Lernmittelentwickler/Lernmittelindustrie, mit denen die Grundschullehrerinnen in deren Sinn positioniert wurden. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen lässt sich diese Argumentation nicht ableiten, das Gegenteil ist der Fall. Unkritische Lehrerinnen, die ohnehin in der Regel nur wenig geneigt sind, neuere pädagogische Fachliteratur nach den aktuellen Entwicklungen zu befragen, folgen denn auch einer solchen Argumentation sehr engagiert.

 

Auch das ist Realität:

 

 

 

Vielleicht verstehen Eltern jetzt die Lesermeinung Gus Hollers in der FAZ noch besser!  

 

 

„Lesen durch Schreiben“ und “Freies Schreiben“?

Lehrerinnen ziehen es leider allzu häufig vor, sich in dieser Frage bei der Lektüre subpädagogischer Literatur wohl zu fühlen.

 

Sommer-Stumpenhorst mag nicht aufhören, ohne Unterlass immer wieder zu betonen: „Ich betrachte den Rechtschreiblernprozess als einen qualitativen Entwicklungsprozess“. Er hat Recht, aber das ist seit Jahrzehnten bekannt. Schon im Handbuch des Deutschunterrichts (A. Beinlich. Emsdetten 1966) findet sich dieser Befund wie auch bei Frith,U. (Hrsg., Cognitive process in spelling. London.1980).

 

*Für Eltern, die es genauer wissen wollen, die (stark) verkürzte Darstellung der Stufen des Entwicklungsprozesses (nach Prof. Peter May, Universität Hamburg):

 

1.     logographische Stufe (etwa Kindergartenalter): Kinder bekommen eine Ahnung von der Phonem-Graphem-Korrespondenz, der Beziehung zwischen Lauten und Zeichen/Buchstaben. Sie lernen – sich anbahnend – Zeichen zu unterscheiden und dass sich Wörter  bezüglich Anzahl der Buchstaben und der Buchstabenfolgen unterscheiden.

2.   alphabetische Stufe (Beginn der Schulzeit bis etwa Ende der ersten Klasse): Sie lernen, den Lautstrom aufzuschließen und mit Hilfe von Buchstaben und Buchstabenfolgen schriftlich festzuhalten. (Die Lösungsstrategien dieser Stufe werden aber auch später nicht aufgegeben.)

3.   orthographische Strategie: Sie haben die Fähigkeit, mit einfachen Laut-Buchstabenzuordnungen unter Beachtung bestimmter  orthographischer Regeln und Prinzipien zu operieren.  Auf dieser Stufe werden die Kinder sowohl bereits mit „Lernwörtern“ befasst, mit Wörtern, die z. B. nicht lautgerecht verschriftet werden,  als auch mit Regelelementen, z. B. „auf Kurzvokal folgen zwei Konsonanten“ .

4.   morphematische Strategie: Kinder haben die Fähigkeit, Wörter zu zerlegen, auf den Wortstamm zurückzuführen, abzuleiten etc. . Sie erhalten daraus Hinweise über die Richtigkeit ihrer Schreibung und Regeln für die Konstruktion weiterer Wörter.

5.   Wortübergreifende Strategie: Die Kinder lernen weiterführende Aspekte der Rechtschreibung kennen: Verwendung der Satzarten, Satzgrammatik für die Kommasetzung, dass-Schreibung, Zusammen-/Getrenntschreibung etc.

 

Der große und zugleich verhängnisvolle Irrtum der Verfechter der Methode „Lesen durch Schreiben“, insbesondere bei Sommer-Stumpenhorst: Er betrachtet den Verlauf der Entwicklungsphasen im Schriftspracherwerb als eine streng sequentielle Abfolge, also auf Stufe 1 folgt Stufe 2, auf Stufe 2 folgt Stufe 3, etc.* . Dieser falschen Theorie folgt auch der Aufbau seiner Materialien. Längst gibt es Studien darüber, die besagen, dass Kinder sich in der Regel auf verschiedenen Stufen gleichzeitig befinden.  So sieht es - laut Wissenschaft - der natürliche Entwicklungsprozesses vor. Fazit: Kinder, die additiv nach vorgefertigten Materialien die Stufen 1, 2, 3, ... abarbeiten müssen, werden per Unterrichtskonzept davon abgehalten, sich gleichzeitig nebeneinander auf mehreren Stufen fortzuentwickeln. Das heißt: Kinder, welche noch die Materialien zur Stufe 2 bearbeiten – was bei der Methode Sommer-Stumpenhorst auch schon einmal bis Klasse 3 dauern kann (Siehe dazu Elternbrief Nr. 3!) – haben keine Chance, schon Kompetenzen der Stufen 3, 4 oder 5 zu erwerben. Ein fataler Irrtum zum Nachteil der Kinder: Es ist falsch, Kinder erst nach Abarbeitung der zu jeder Stufe gehörigen Materialien in die Arbeit auf der nächsten Stufe zu entlassen. Was tatsächlich im Unterricht der „Rechtschreibwerkstatt“ geschieht, ist ohne Zweifel alles andere als wirkliche Individualisierung - zum Schaden der Kinder. Dabei sind die Unterrichtsmodernisierer mit dem Anspruch angetreten, einen in besonderem Maße individualisierenden Unterricht zu vertreten!  

 

Mit der neuen Theorie einher ging auch die Erkenntnis, dass – mit Ausnahme von Einzelfällen – Kinder beim Erlernen der Rechtschreibung nicht einfach Wörter auswendig lernen, sie dann auf Dauer auf der graphischen Ebene abspeichern, um sie dann gegebenenfalls korrekt anwenden zu können. Das war die Wortbildtheorie, der Gerheid Scheerer-Neumann in 1995  (Wortspezifisch: Ja – Wortbild: Nein. Ein letztes Lebewohl an die Wortbildtheorie. In: Brügelmann, Hans/ Balhorn, Heiko [Hrsg.]: Rätsel des Schriftspracherwerbs. Neue Sichtweisen aus der Forschung. Lengwil am Bodensee, S. 230-244.) den Garaus bereitete.

 

Den derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechend führt nicht das lineare Füttern mit orthographischen Einheiten und Regeln oder das Auswendiglernen von Wörtern einer Wortliste zur wirklichen Rechtschreibkompetenz. Als Lernvoraussetzungen für den Schriftspracherwerb werden heute gesehen z. B. die Einsicht in das alphabetische Prinzip unserer Schriftsprache, das Erkennen der Struktur von Laut- und Schriftsprache sowie die Einsicht in die formalen Strukturen unserer Schriftsprache. Zum Zustandekommen jeglichen Lernens gehört Eigenaktivität. Was jedoch keinesfalls heißt, dass  von ernst zu nehmenden Fachwissenschaftlern irgendwo die Forderung erhoben würde, Kinder sollten sich das Lesen und Schreiben selber beibringen, das Gegenteil ist der Fall. So werden übrigens nicht in einer einzigen wissenschaftlich relevanten Veröffentlichung zum Schriftspracherwerb, also weder aus fachdidaktischer, pädagogischer, psychologischer oder sprachwissenschaftlicher Sicht, die Methoden Sommer-Stumpenhorst oder Tinto  erwähnt.  Die dritte Lesen-durch-Schreiben-Methode, die Methode Reichen,  hingegen wird zwar bisweilen erwähnt, dann aber etwa so wie bei W. Einsiedler (in: Empirische Grundschulforschung im deutschsprachigen Raum – Trends und Defizite. IfG – Institut für Grundschulforschung der Universität Erlangen-Nürnberg 1997): „Ab dem 2. Schuljahr wurden die orthographisch korrekten Schreibungen verglichen. Dabei zeigten sich im Diktat im 2., 3. und 4. Schuljahr signifikante (= bedeutsame, Anm. des Autors) Nachteile der Reichen-Methode.“ Auch G. Augst/M. Dehn weisen (in: Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht, Stuttgart-Düsseldorf-Leipzig.2oo2) auf methodisch verursachte Defizite beim Erlernen der Rechtschreibung durch die Methode Reichen hin. Eva Maria Kirschhock , Dozentin an der Universität Erlangen-Nürnberg, bringt es für die hier genannten Selbstlernkonzepte noch einmal auf den Punkt (in: http://www.opus.ub.uni-erlangen.de/opus/volltexte/2004/55/): „Zum anderen hat sich das Missverständnis einiger Theoretiker und Praktiker, dass sich nämlich die schriftsprachliche Entwicklung bei dem einzelnen Kinde völlig „aus sich heraus“ vollziehen würde, mittlerweile relativiert. Die Erkenntnis, dass jedes Lernen ein eigenaktiver Prozess ist, bedeutet nicht, dass ein anregungsreicher Unterricht und die Konfrontation mit der normgerechten Schriftsprache nicht auch wichtig wäre, um die Entwicklung anzustoßen oder voranzutreiben.“

 

Die verhängnisvollen Versäumnisse der Methode „Lesen durch Schreiben“/“Freies Schreiben“

 

 

Bei der (oben dargestellten) neuen Sichtweise des Schriftspracherwerbsprozesses, die ein besonderes Augenmerk auf die entwicklungspsychologischen Aspekte legt, ist deutlich erkennbar, dass sich für das Kind mit den Einsichten in die Konstruktionsprinzipien der Schriftsprache der Handlungsrahmen für den Schriftspracherwerb vergrößert und es zu einer größeren Eigenaktivität geradezu herausfordert: Es darf mit Hilfe der gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse konstruieren, ausprobieren, experimentieren und dabei zu einem für sich schlüssigen Ergebnis kommen. Learning by doing! Bekannt ist: Was auf diesem Wege gelernt wird, bleibt besonders gut haften. 


Ich tue meine Schue in die Tasche.

 

Greta verschriftet „Schue“ wie „tue“. Die Lehrerin sagt: “Schön!“ Das Kind hat ein Erfolgserlebnis. „Schue“ wird sich bei Greta nun nicht etwa als Wortbild abspeichern -  einen Wortbildspeicher gibt es wirklich nicht. Abspeichern wird sich bei Greta jedoch der Konstruktionsprozess, wie sie über die Lautabfolge „tue“ die Schreibung zu „Schue“ gefunden hat – und natürlich wird Greta auch behalten, dass die Lehrerin ihr Wohlgefallen signalisiert hat – das macht sie sicher. Nach demselben Konstruktionsprinzip wird Greta nun auch anstatt «Ruhe» > «Rue» schreiben. Jedes verinnerlichte falsche (wie auch richtige) Konstruktionsprinzip hat Folgen. Die pädagogische Psychologie weiß: Jede Rückmeldung wie  „Schön!“ wirkt sich verstärkend auf die Speicherung im Langzeitgedächtnis aus.

 

Beispiel «fertig»: Greta schreibt: „Die Suppe ist fertig. Die Mutter hat aber das Salz fergessen.“ Die Lehrerin kommentiert: “Fein, Greta!“ Freies Schreiben eben! Greta hat soeben ein falsches Konstruktionsprinzip dazugelernt, sie wird es abspeichern und auch anwenden bei der Verschriftung von verbrennen, verschließen, verplempern, ..... .

 

Eltern wie Lehrerinnen werden in die Irre geführt, wenn sie - wie bei Sommer-Stumpenhorst gefunden – lesen: „Kinder prägen sich keine Falschschreibungen ein. [Der Irrtum mit dem Wortbildspeicher]“ (in: Richtig Schreiben lernen von Anfang an. Berlin 2001.). Diese Versicherung ist nicht mehr als der Versuch, Eltern auf unredliche Weise ruhig zu stellen. Niemand kommt ja auch auf die Idee zu behaupten, schlechte Rechtschreiber könnten durch vieles Lesen zu guten Rechtschreibern werden, weil sie dadurch die Möglichkeit hätten, sich die vielen Richtigschreibungen einzuprägen. Noch einmal:

 

 

Zu ergänzen sei noch, worauf denn nun Kinder bei ihrem Konstruktionsprozess zurückgreifen. Schon seit Beginn des Schreiblernprozesses, der bei manchen Kindern ja auch schon vor dem eigentlichen Schuleintritt liegen kann,  speichern die Kinder sog. „Schreibschemata“: Schreibschemata sind durch „abstrakte" Laut-Buchstaben-Zuordnungen gebildet: als lineare Buchstabenfolgen mit Verwandtschaft zum jeweiligen Lautschema. Die konkrete Schreibung wird dann durch Schreibregeln bestimmt. Schemata sind aber nicht nur Wörter, sondern auch Buchstabenkombinationen, dann allerdings bezeichnen G. Augst/M. Dehn (in: Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht, Stuttgart-Düsseldorf-Leipzig.2oo2) diese als „Muster“. Schon bald in der 1. Klasse werden die verinnerlichten Schreibschemata und Muster abgespeichert.  Kindern dienen Schreibschemata/Muster quasi als Konstruktionselemente für ihre Konstruktionsprozesse, zu denen auch Analogbildungen (Siehe Beispiel oben „Rue“!) gehören. Aus den erfolgreich abgearbeiteten Konstruktionsprozessen heraus entwickeln die Kinder regelrechte Lösungsstrategien.

 

Die Folgen des freien Schreibens, bei dem die Lehrerin die Rechtschreibung unberücksichtigt lässt und wildes Drauflosschreiben regelrecht fördert, sind schlimm:

 

 

An dieser Stelle bleibt mir nichts anderes übrig, als noch einmal auf den Eintrag des Gus Holler (S. o.!) zu verweisen:

 

„Der Frust der Autorin ist leicht nachvollziehbar - jedenfalls für solche Eltern, die im direkten Vergleich zweier Kinder die Auswirkungen eines Wechsels des schreibpädagogischen Dogmas plastisch und leidvoll miterleben durften.
Unglaublich- aber wahr, den nichtpädagogischen Erziehungsberechtigten wird tatsächlich jahrelang untersagt, auf korrekte Orthographie hinzuweisen (auch die Schulnote gibt keinen Hinweis auf Lerndefizite), um dann im 4. Jahr umso intensiver und notengestützt das Problem zu dokumentieren - jedoch ohne einen irgend erkennbaren pädagogischen Ansatz zur Behebung der antrainierten Schwäche.“

 

Geradezu närrisch ist die vielfach aufgestellte Behauptung, man dürfe Kinder in ihrer Kreativität nicht einschränken und  ihre Schreibmotivation könnte schon dann gehemmt werden, wenn man daran ginge, mit ihnen Fehlschreibungen korrigieren zu wollen. Schon seit Jahrzehnten dürfte sich unter Lehrerinnen herumgesprochen haben, dass während des Schriftspracherwerbs produzierte Falschschreibungen nicht als Fehler zu gelten haben, weil die Kinder sich noch in einem Lernprozess befinden. Das lässt sich den Kindern auch erklären, ohne den stigmatisierenden Terminus „Fehler“ anzuwenden: „Du möchtest schreiben lernen, wie die Erwachsenen es können.“ Danach sollte man allerdings den Kindern auch erklären, nach welcher Strategie die Erwachsenen ein Wort z. B. anders schreiben. Freilich, viele Male muss man ihnen auch erklären, dass das betreffende Wort eines der Lernwörter ist, die man ganz einfach lernen muss, zu dessen Schreibung es keine Regel gibt, vielleicht aber eine Eselsbrücke weiter helfen kann.  Völlig unstrittig bei seriösen Fachleuten ist, dass Kindern auf Nachfrage nach einer Schreibung immer nur eine wirklich zutreffende Erklärung zu geben ist. Vom einfachen Vormachen oder Vorschreiben  profitiert das Kind in keiner Weise.

 

Gerne bezeichnen  nach dem Konzept „Lesen durch Schreiben“/“Freies Schreiben“ unterrichtende Lehrerinnen die vielen beim freien Schreiben produzierten Fehler als „Lernchancen“. Wie aber das, wenn nicht daran gearbeitet wird? Das kennen Eltern doch selbst noch aus Ihrer eigenen Schulzeit, wenn die Lehrerin sagte: „Aus Fehlern lernt man!“. Und dann wurde daran gearbeitet. So waren Fehler wirklich „Lernchancen“. 

 

Etliche Studien berichten mittlerweile darüber, dass die Methode „Lesen durch Schreiben“/“Freies Schreiben“ schlechtere Rechtschreiber hervorbringt als ein Fibelunterricht. Nicht einmal das, was durch freies Schreiben besser gelingen sollte, wird erreicht: Durch eine Untersuchung fanden G. Augst/M. Dehn (in: Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht, Stuttgart-Düsseldorf-Leipzig 2oo2) heraus, dass nach „Lesen durch Schreiben“/“Freies Schreiben“ unterrichtete Kinder nicht nur die bei weitem schlechteren Rechtschreiber waren, sondern auch beim Verfassen von freien Texten nicht mithalten konnten. Nach dem ersten Schulhalbjahr

 

 

Auch Dr. Cordula Löffler, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg/Reutlingen fordert eine verantwortliche (und nachahmenswerte) Auffassung vom freien Schreiben (in: Füssenich/Löffler: Schriftspracherwerb. München 2005.): „Meist überwiegt in der ersten Klasse das freie Schreiben und wird durch angeleitetes Schreiben (Schreiben nach Vorgaben) ergänzt.  Texte von Kindern, die im Unterricht entstehen, werden auch beurteilt und korrigiert.“ Nur derjenige, der auf diese Weise pädagogisch handelt, nimmt Kinder wirklich ernst. Das spüren natürlich auch die Kinder. Denn: Kommen sie dahinter, dass ihre Schreibungen nur den Charakter des Vorläufigen haben und letztlich nicht als vollwertig angesehen werden, ist das völlig demotivierend für sie - eine vorerst kaum mehr zu korrigierende Arbeitshaltung ist die unausbleibliche verhängnisvolle Folge.  

 

Fazit daraus:

 

Das "Freie Schreiben" und das angeleitete Schreiben ab der 1. Klasse - wie es verantwortungsvoll Füssenich/Löffler vorschlagen - , ist in jeder Hinsicht befürworten.


 

-  und "freies Schreiben"  ablehnt für Kinder

 

 

 

-  Zur Gruppe der gefährdeten Kinder gehören auch Kinder

 

 

 

„Lesen durch Schreiben“/„Freies Schreiben“ also ein wirklich erfolgreiches und zukunftsweisendes Unterrichtskonzept? Eltern sollten jetzt noch einmal Elternbrief Nr. 3 „Lese-Rechtschreib-Schwäche – schlimme Folgen“ lesen! Sie sollten in der Schulkonferenz unüberhörbar von ihrem Mitspracherecht Gebrauch machen! 

 

J. Günter Jansen