Startseite


Nachrichten


Elternbriefe


Anlagen


Presseberichte


Archiv


Impr./E-Mail





 

Elternbrief Nr. 9

(09/06)

  

 

 

 

 

 

 

 

 

Offener Unterricht in der Grundschule

 

Unterrichtsformen gegen die Wirklichkeit des Grundschülers


Die Schuldzuweisungen nach PISA I und IGLU waren seinerzeit noch nicht verhallt, da hagelte es nach PISA II neue Vorwürfe. Dieses Mal jedoch hatten die verantwortlichen Bildungspolitiker ihre Verteidigungslinie sorgfältiger vorbereitet, gerierten sich euphorisch, redeten von Anfangserfolgen und nicht nachlassendem Reformbemühen und weiterhin von moderner Schule, was auch immer das sein soll. Dabei landete Deutschland bei PISA II unter den 31 teilnehmenden OECD-Staaten im Lesen und Textverständnis noch immer nur auf Rang 20. Das ist nun nicht wirklich Mittelmaß, wie man es dem Volk einreden wollte. Nach der Veröffentlichung der weniger bekannten Grundschulstudie IGLU  beschwichtigte man seinerzeit ebenso und verbreitete das Gerücht, Deutschland habe ganz gut abgeschnitten. In der Tat waren die Ergebnisse besser als bei PISA I, aber gut noch lange nicht. Übrigens lagen Nordrhein-Westfalen und Hessen bei IGLU (in: Wilfried Bos et al.: IGLU. Münster/New York/ München/Berlin 2004) in nahezu allen Ergebnissen noch unter bundesdeutschem Durchschnitt. Und das nach mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten „moderner“  Schulpolitik, während derer z. B. die Länder NRW und Hessen mit nicht mehr zählbaren Reförmchen und Reformen der übrigen Republik ihre Überlegenheit in Sachen Schule vorgaukeln wollten.


Was eigentlich haben bundesdeutsche Bildungspolitiker, die damals nach der Veröffentlichung von PISA I scharenweise in das Siegerland Finnland auf Dienstreise gingen, von dort an Erkenntnissen mitgebracht und umgesetzt? Bei ernsthaftem Hinsehen hätten sie aber zum Beispiel dies  lernen können:

 

Die Jahresunterrichtszeit finnischer Kinder liegt noch unter deutschem Niveau und auch weit unter OECD-Durchschnitt (in: Deutsches Pisa – Konsortium [Hrsg.]: PISA 2000. Opladen 2001). Die finnische Schule ist ein Beleg dafür, wie man mit gutem Unterricht  und fürsorglicher Förderung schwacher Schüler trotzdem Primus werden kann. Nachdenklich stimmt natürlich, wenn sich bei genauer Betrachtung herausstellt,

 

dass in Deutschland die durchschnittliche Unterrichtszeit pro Schüler und pro Jahr erheblich unter dem OECD Mittel liegt – z. B. liegt in Deutschland die Unterrichtszeit für einen 7- bis 8-jährigen Schüler bei 626 Stunden und damit um mehr als 160 Stunden unter dem -Mittel (788 Stunden) -.

Ganz offenbar haben die finnischen Schüler bei den internationalen Studien weltweit am besten abschnitten und lagen damit erheblich über den Leistungen deutscher Schüler. Nichts liegt also näher, als auch daran zu denken, dass die Ursachen für die Leistungsdefizite deutscher Schüler in einem qualitativ schlechteren Unterricht sowie in einer schlechteren Förderung  zu suchen sind. Im Vergleich zum Ausland sind bei uns insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder aus bildungsfernen Schichten und schwache Schüler erheblich benachteiligt.


In finnischen Schulen werden die Leistungsdefizite der schwachen Schüler von Fachkräften punktgenau diagnostiziert, dann werden die Kinder in Kleingruppen oder in Einzelunterricht hausintern von Schulassistenten und Speziallehrern an die erwarteten Leistungen herangeführt. Die finnische Schule löst das Problem mit individueller Förderung, die der Bezeichnung entspricht. An die ausgeklügelten Theorien über die Heilswirkungen der bei uns präferierten Binnendifferenzierung mag in Finnland niemand glauben: In Klassen mit über 20 Kindern wird zusätzlich eine Assistentin eingesetzt. Lernschwache Kinder werden vorübergehend getrennt von der Klasse in Einzelunterricht oder in Kleingruppen (mit bis zu vier Schülern) von fest angestellten Speziallehrern/-lehrerinnen mit fundierten diagnostischen und therapeutischen Kompetenzen unterrichtet. Man weiß: Gerade schwächere Schüler/Schülerinnen und ich-schwache Kinder aus unterprivilegierten Familien können im Einzelunterricht oder in homogenen Kleingruppen mit der personalen Nähe eines Lehrers/einer Lehrerin besonders effektiv gefördert und nachhaltig aufgefangen werden. Von solchen Verhältnissen wollen Lehrerinnen bei uns nicht einmal träumen. Dort sind verfügbar, d. h. stationär disponibel, für die ganze Schule: Sozialarbeiter, Schulschwestern mit medizinischer Ausbildung, Logopäden und Psychologen. Finnische Lehrkräfte halten nichts vom reformpädagogisch geprägten Mainstream in Deutschland und von den Theorien über die Binnendifferenzierung, sie unterrichten fast ausnahmslos „konservativ“. Finnland lehnt die hierzulande so hochgepriesene „Reformpädagogik“ mit ihrem modernen Offenen Unterricht völlig ab. Die internationalen Studien geben ihnen Recht.


Was die finnische Schule nicht richtig macht, wissen die Lehrerinnen dort aber sehr wohl: Die Förderung hochbegabter Kinder liegt im Argen und ist dringend verbesserungsbedürftig. In Deutschland ist die Förderung Hochbegabter nach dem Motto "Es ist kein Luxus, große Begabungen zu fördern; es ist Luxus, und zwar sträflicher Luxus, dies nicht zu tun. " (Alfred Herrhausen, 1930-1989, ehem. Vorstandssprecher der Deutschen Bank) ein ständiges hochrangiges Thema : Es gibt Schulen für Hochbegabte und allerorten Sonderberatung und Sonderfördermaßnahmen für Hochbegabte. Bei schwächeren Schülern/Schülerinnen und ich-schwachen Kindern aus unterprivilegierten Familien hält die deutsche Schulpolitik es jedoch für richtig, diese sogar bedenkenlos auch in große Klassen (mehr als 30 Kinder) zu stecken: Ausgerechnet diese Kinder sollen sich - binnendifferenziert – durch selbstbestimmtes und selbständiges Lernen sogar das Lesen und Schreiben selber beibringen können. Eine schlimme Verharmlosung wäre es,  bei diesem Versagen der Schulpolitik ebenfalls von einem  „sträflichen Luxus“ zu sprechen: Hier wird fortwährend gegen Menschenrecht und Menschenwürde verstoßen. Das erinnert daran, dass schon deutsche Pädagogen der Reformpädagogik in diesem Sinne selektierten und die Förderung von „Elite“ bevorzugten (in: Elternbrief Nr. 8: Der Jena-Plan des NS-Pädagogen Peter Petersen und dessen Wirken in den Jahren 1933 - 1945).

 

 

I.

 

Offener Unterricht: die Wurzeln

 

Die Wurzeln des Offenen Unterrichts sind nicht eindeutig festzustellen, auf jeden Fall aber sind sie mit hohem Anteil auch zu finden in der antiautoritären Bewegung und in der Kinderladenbewegung der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ursprünglich ist der Offene Unterricht wohl aber zurückzuführen auf die pädagogische Reformbewegung der ersten Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts, auf die historische Reformpädagogik.  So wenig geschlossen und einheitlich diese Strömung auch war, so geht offenbar dennoch auch heute noch eine große Faszination von ihr aus. So werden denn die pädagogischen Postulate von einst auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts - von einer freilich abnehmenden Anzahl von Erziehungswissenschaftlern - noch immer für tauglich gehalten, sie mit derselben sentimentalen Vehemenz und im selben sprachlichen Gewand von damals zur Inszenierung eines „neuen“ pädagogischen Mainstreams  zu nutzen: die Neo-Reformpädagogik im ausgehenden 20. sowie in den Anfängen des 21. Jahrhunderts. Durchaus angemessen betitelt Erziehungswissenschaftler Winfried Böhm seinen Aufsatz zur Neo-Reformpädagogik „Schnee vom vergangenen Jahrhundert“ (Neue Aspekte der Reformpädagogik. Würzburg 1993.),  Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth nennt die  Neo-Reformpädagogik „gegenwärtige Vergangenheit“ (in: Reformpädagogik. Antrittsvorlesung 1992). Es ist schon absonderlich, wenn heute nach pädagogischen Konzepten gerufen wird, die der veränderten Kindheit unserer heutigen Kinder gerecht werden sollen, und man dabei auf Konzepte zurückgreift, die mehr als hundert Jahre alt sind. Unstrittig ist, dass schon seit ihren Anfängen die Vorstellungen vieler Reformpädagogen neben realitätsfernen Träumereien auch ungeheuerliche und menschenverachtende Züge aufwiesen.  

Die historische Reformpädagogik, die keineswegs eine geschlossene und einheitliche Strömung war, lässt sich auch in zeitlicher Hinsicht in keinen bestimmten Zeitrahmen verorten, obschon sich jedoch ohne weiteres feststellen lässt, dass die Blütezeit der deutschen historischen Reformpädagogik in die Jahre um 1890 bis ca. 1930 fällt. Die Reformpädagogik war seinerzeit keineswegs ein rein deutsches Phänomen, Impulse erhielt die deutsche Reformpädagogik zuhauf auch aus außerdeutschen reformpädagogischen Bewegungen, so z. B. von John Dewy (USA), Maria Montessori (Italien), Ellen Key (Schweden), Célestin Freinet (Frankreich). 

 

 

Prof. Wolfgang Keim formuliert die Anliegen der historischen Reformpädagogik so (in: Bewegung vom begüterten und rassisch gesunden Kinde aus. Frankfurter Rundschau 1999): „Ihr zentrales Kennzeichen war die Frontstellung gegen jegliche autoritäre, vom Lehrer oder vom Stoff her konzipierte Erziehung, an deren Stelle eine Orientierung an kindlichen und jugendlichen Bedürfnissen treten sollte. Damit verbanden sich Ziele wie Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung, Individualisierung, aber auch Vorstellungen von ’Gemeinschaftserziehung’ sowie nicht zuletzt ein neuer, auf Ganzheitlichkeit, Entfaltung schöpferischer Kräfte und Erfahrungsbezug hin ausgerichteter Lernbegriff“. Auf diese und ähnliche Formeln stützte sich die reformpädagogische Bewegung  und entfesselte damit gleichsam einen Wettbewerb für pädagogische Träumereien: Pädagogik vom Kinde aus.  Schon damals zeigte sich, dass insbesondere die realitätsfernen Vorstellungen von dem unerschöpflichen Selbstentfaltungs-, Selbststeuerungs- und Selbstbestimmungspotential in den Kindern nicht viel taugten für die Realitäten in Regelschulen. Nicht einmal in den vom reformpädagogischen Geist geprägten Eliteschulen – Wolfgang Keim bezeichnet die Bewegung der Reformpädagogik „vom Kinde aus“ als eigentliche „Bewegung vom begüterten und rassisch gesunden Kind aus“ -  ließen sich die Erfolge erzielen, die mit den Heilsversprechungen der Reformpädagogik hätten korrespondieren können. Nichtsdestotrotz konstruieren seit mehr als dreißig Jahren gewisse Erziehungswissenschaftler mit hundert Jahre alten Schlagworten ihre Neo-Reformpädagogik und verkünden dabei Erstaunliches: den Paradigmenwechsel in der Pädagogik. Mit der Neo-Reformpädagogik ins 3. Jahrtausend also!

 

So konstituieren denn auch etwa seit Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts die Neo-Reformpädagogen (zunächst unter Mithilfe der antiautoritären Bewegung sowie der Kinderladenbewegung) verklärend und mit den Zielformulierungen von ehedem - Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung, Selbststeuerung, Individualisierung, Entfaltung schöpferischer Kräfte, ein auf Erfahrungsbezug hin ausgerichteter Lernbegriff -  den „ganz anderen“, den „modernen“ Unterricht. Gemeint ist der Offene Unterricht mit offenen Unterrichtsformen wie Projektunterricht, Epochenunterricht, Freiarbeit, Stationenlernen, Werkstattunterricht, der Unterricht mit Jahrgangsmischung, ...... . Natürlich darf nicht übersehen werden, dass gewisse Ideen der historischen Reformpädagogik, befreit man sie aus den Fesseln romantisch-pathetischer Irrationalitäten, dem schulischen Unterricht nachhaltige Impulse geben konnten und können.  Denken wir dabei z. B. an die diversen und in vieler Hinsicht durchaus ertragreichen gruppenunterrichtlichen Verfahren sowie an die Bemühungen um Selbsttätigkeit der Kinder oder um Differenzierung und Individualisierung, sofern sie nicht unreflektiert Bezug nehmen auf die realitätsfernen Träume am Professorenkatheder oder anknüpfen an deren sentimental-romantischen Elaboraten!  Noch größeren Einfluss auf die Fortentwicklung des „individualisierenden“ Unterrichts dürften derzeit freilich die privatwirtschaftlichen Interessen von Lernmittelentwicklern und die boomende Lernmittelindustrie nehmen, die in der teilweise arglosen Lehrerschaft bereitwillige Abnehmer ihrer oft exotischen Produkte finden. 


 

II.

 


Selbstbestimmtes, selbstorganisiertes, selbstgesteuertes, selbstregulatives, selbstreguliertes, selbstständiges Lernen von Anfang an:

 

Grundschüler bestimmen über das Was, Wann, Wie, Wie viel und Wie lange


In der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 03.05.2006 war von einem Schulversuch in der Schweiz zu lesen:

„Die Kantonsschule Zürcher Oberland wagt seit zwei Jahren ein mutiges Experiment. Die Schüler lernen ein halbes Jahr lang ohne Lehrer. Was viele überrascht: Die Erfahrungen sind fast durchweg positiv.

In Deutsch, Mathematik, Chemie, Biologie, Sport und zwei Sprachen müssen sich die fünften Gymnasialklassen (die elften nach deutscher Zählweise) das Wissen ein halbes Jahr lang weitgehend selbst beibringen. Zum Schuljahresbeginn werden sie mit dem Lernstoff für das ganze Halbjahr versorgt. Einmal die Woche dürfen sie pro Fach eine Stunde lang Fragen stellen und Nachhilfe einholen. Die Schüler arbeiten für sich zu Hause oder mit Mitschülern in einem leeren Klassenraum, sie büffeln Englischvokabeln im Schwimmbad oder verbringen ihre Sportstunde im Wald. ....“

Bei uns experimentiert man mit dieser Idee schon in der Grundschule - seit langem. Deutschland ist - gerade wenn es um Grundschulpädagogik geht -  der Welt schon lange voraus! Der Lehrer soll  selbst in der Grundschule nur noch eine - ziemlich undefinierte - gewisse Rolle spielen, als Coach z. B. . Bereits seit Jahren wird in vielen Regelschulen treuherzig und  trendgemäß das praktiziert,  was auf Umsatz bedachte Verlage und realitätsferne Vordenker des modernen Offenen Unterrichts* den Grundschullehrerinnen seit Jahrzehnten einpauken: Schon in der Grundschule sollen die Kinder beim Lernen über das Was, Wann, Wie, Wo, Wie viel und Wie lange selber entscheiden dürfen. Besonders eignen sollen sich dazu in der Grundschule Unterrichtsformen wie Wochenplan, Freiarbeit, Stationenlernen**, Werkstattunterricht*** und Projektunterricht**** .

Allerdings ist der moderne Offene Unterricht ein schillerndes Phänomen, und die Definitionen für den Offenen Unterricht sind so zahlreich wie blumig und uferlos. Nach Prof. Rainer Winkel (in: Offener oder Beweglicher Unterricht? Zur Klärung einer Misslichkeit. In: Grundschule 1993.) hat der Terminus „Offener Unterricht“ inzwischen so eine Art Müllschlucker-Funktion übernommen, und alles, was so an – auch noch so abenteuerlichen – schulischen Ideen und Materialien auf den Markt getragen wird, wird dem modernen Offenen Unterricht zugeordnet. Eine den Realitäten nahe kommende Definition des Offenen Unterrichts liefert Prof. Elisabeth Neuhaus-Siemon (in: Offener Unterricht in der Diskussion - eine neue pädagogische Utopie? In: Pädagogische Welt  1989): „Mit dem Terminus ’Offener Unterricht’ wird ein Unterricht bezeichnet, dessen Unterrichtsinhalt, -durchführung und -verlauf nicht primär vom Lehrer, sondern von Interessen, Wünschen und Fähigkeiten der Schüler bestimmt wird, wobei der Grad der Selbst- und Mitbestimmung des zu Lernenden durch die Schüler zum entscheidenden Kriterium des Offenen Unterrichts wird“.

Die Ziele des modernen Offenen Unterrichts definiert neben unzähligen anderen Prof. Hildegard Kasper so (in: Offene Lernsituationen. Eine schulische Antwort auf veränderte Erziehungserwartungen. In: Grundschule 1992.):



auf das Individuum bezogen:

Stärkung des Selbstvertrauens, Hinführung zu Selbstständigkeit, Selbstverantwortung, Entscheidungsfähigkeit und Autonomie


auf Partner oder Gruppen bezogen:

Entwicklung von Beziehungsfähigkeit und Einfühlungsvermögen, Entwicklung von Interaktionskompetenzen, Entwicklung der Integrationsfähigkeit,  Entwicklung von Toleranzverhalten

 

kognitiv akzentuiert:

Entwicklung und Ausbau persönlicher Sachinteressen, Entwicklung von Lernstrategien, Entwicklung von Kreativität und Phantasie


sozial emotional akzentuiert:

Entwicklung emotionaler Kompetenz, sozialer (Handlungs)–Kompetenz sowie sozial orientierter Kreativität und Phantasie


Diese prozessorientierte Sichtweise des modernen Offenen Unterrichts zielt auf den Erwerb von sog. „Schlüsselqualifikationen“ ab, die Aspekte schulischer Leistung bleiben außen vor.


Das ist die Maßgabe, an der sich Grundschule in vielen Bundesländern zu orientieren hat! Grundschule heute hat prozessorientiert zu arbeiten. Wer nach dem Output auch nur fragt, setzt sich schlimmsten Anfeindungen aus. Lehrpläne wie z. B. die in den Ländern NRW und Hessen haben dieser Ideologie inzwischen mit ihren wachsweichen halb- oder unverbindlichen Vorgaben für die Leistungsanforderungen Rechnung getragen (Siehe Anlagen zu Elternbrief Nr. 3!). In erschreckend vielen Grundschulen werden mittlerweile höchstrangig die Zielvorstellungen des modernen Offenen Unterrichts verfolgt. Dabei ist beklagenswert oft jeglicher Blick für Lernziele und Lernergebnisse verloren gegangen, Prozessorientierung ist das A und O. Besser als Dagmar Wilde (Tätigkeit in der Lehrerausbildung. Fundstelle: Internet) kann man es kaum formulieren: „Es geht nicht vorrangig darum, ’messbare’ Leistungen zu erzielen, sondern darum, die Leistungsbereitschaft zu entfalten, den Leistungswillen zu stärken und die Leistungsfreude zu sichern“. Entsprechend stellen sich Schulen nach außen dar: „Statt Unterricht im 45-Minuten-Takt wechseln Konzentrations- und Entspannungsphasen. Auch für selbstinitiierte Tätigkeiten, für Spiel und Erholung finden die Kinder Raum. In den ersten vier Jahren gibt es keine Noten. Die Leistungen der Kinder werden ’prozessorientiert’ bewertet“ (Evangelische Schule Lichtenberg Berlin. Fundstelle: Internet).


Zu Recht beanstanden immer wieder Eltern, dass sich der moderne Offene Unterricht ihrer Kinder oft darstellt als eine „Stillbeschäftigung bei hohem Lärmpegel“ und  die darin entstandenen „Arbeitsergebnisse“  ohne jegliche Korrektur oder andersgeartete Würdigung in einer Mappe versteckt, in Form eines Portfolio gesammelt, in einem „Buch“ geheftet oder einfach als Ansammlung von Blättern bald irgendwo den Papierabfällen zugeordnet werden. Wie beklagenswert selten bei „offen“ gestalteten Schülerarbeiten auf Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt, Sauberkeit,  etc.  geachtet wird, ist den meisten Eltern schon lange aufgefallen. Alles ist irgendwie „gut“, das Tadelnswerte wird nicht getadelt, das „Lob“ wird zur nichtssagenden Floskel. Kinder spüren schon bald,  dass sie nicht wirklich ernst genommen werden und reagieren entsprechend. Beunruhigt sind Eltern auch darüber,  dass Überprüfungen dessen, was die Kinder denn nun wirklich gelernt haben,  immer seltener werden. Nun hat das aber aus plausiblen Gründen die „offen“ unterrichtenden Lehrerinnen auch nicht zu interessieren: Im modernen Offenen Unterricht geht es – wie oben gesehen - nur wenig darum, "’messbare’ Leistungen zu erzielen“, denn „die Leistungen der Kinder werden ’prozessorientiert’ bewertet“. Wissen ist da weniger gefragt, es geht vorrangig um den Prozess, um die Methode, die in Wirklichkeit oft weniger eine Methode als ein Spektakel ist.

Zu fragen ist natürlich: Mit welcher Logik eigentlich läuft ein prozessorientierter Unterricht ab, bei dem der Output keine - oder höchstens eine untergeordnete Rolle  spielen soll?  Allein sinnvoll wäre es, am Ende determinierter Abschnitte bzw. nach überschaubaren oder länger andauernden  Lernprozessen die Ergebnisse gründlich auszuwerten und danach – je nach Notwendigkeit – darüber zu entscheiden, in welchem Umfang die Prozessbedingungen - dazu gehören ganz ohne Zweifel auch die Unterrichtsformen -  zu verändern sind. Eine solche Überprüfung kann man sich allerdings ersparen, wenn es in der Grundschule tatsächlich nicht mehr auch um Lernergebnisse gehen sollte.

Zur Einschätzung vieler Eltern, dass moderner Offener Unterricht „Stillbeschäftigung bei hohem Lärmpegel“ sei,  ist nachzutragen,  dass neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge Leistungen dann stets stark beeinträchtigt werden, wenn es im „Hintergrund“ des Klassenraumes zu Störeffekten kommt. Wenn es um Gespräche im Hintergrund eines Raumes geht, macht es keinen Unterschied, ob man das Gesprochene inhaltlich versteht oder nicht: „Man gewöhnt sich nicht an den Störeffekt von dem Hintergrundschall“ (Bernhard Hofmann [Hrsg.]: Übergänge. Berlin 2005). Darüber hinaus wurde in den Untersuchungen zu dieser Problematik herausgefunden: „Es wird den Versuchspersonen nicht bewusst – aber die Leistung ist trotzdem schlechter“. 

Als besonders interessante Spielwiese für die kühnen Phantasien zum modernen Offenen Unterricht und das wirtschaftliche Kalkül der Lehr- und Lernmittelerfinder erweist sich zunehmend der sog. individualisierende Schriftspracherwerbsunterricht. Besonders zu nennen sind da die Methoden „Tinto“ von Rüdiger Urbanek, die  „Rechtschreibwerkstatt“ von Norbert Sommer-Stumpenhorst sowie „Lesen durch Schreiben“ von  Jürgen Reichen. Auch da geht es natürlich ausschließlich prozessorientiert zu.

Der prozessorientierte individualisierende Schriftspracherwerbsunterricht mit dem ihm zuzuordnenden Freien Schreiben kann indes für Kinder (und Eltern) besonders fatale Folgen nach sich ziehen. In Elternbrief Nr. 7 wird dargestellt, wie Eltern von Kindern in Klasse 4 aus allen Wolken fallen, wenn dann ganz plötzlich doch über Leistung geredet werden muss – vor dem Übertritt in die weiterführende Schule. Dass die offen unterrichtenden Grundschullehrerinnen die in sieben Bundesländern obligatorischen Vergleichsarbeiten in Klasse 3 (VERA) nicht sonderlich schätzen, ist leicht nachzuvollziehen: Schließlich werden da viele Kinder zum ersten Mal in ihrer schulischen Laufbahn auf ihre Leistung überprüft.  Das Magazin „Der Spiegel“ wusste im Juli 2006 davon zu berichten, dass Grundschullehrerinnen vor dem Test - nachdem sie sich die Aufgaben auf illegalem Weg besorgt hatten - gezielt mit ihren Kindern übten oder ihnen während der Tests massive Hilfe boten. Bekannt ist auch, dass Schulleiterinnen bisweilen den Tipp geben,  bei der Auswertung der Testarbeiten nicht so genau hinzuschauen.

Wenn die eifrigen Streiter für den modernen Offenen Unterricht immer wieder verkünden, es bedürfe heute ganz anderer Schlüsselqualifikationen als zu früheren Zeiten, haben sie damit keineswegs Recht. Nicht ganz andere Schlüsselqualifikationen sind heute gefragt, sondern die Palette wichtiger Schlüsselqualifikationen ist größer geworden. Es ist nicht zu bezweifeln, dass die Gesellschaft hinsichtlich Werteverhalten, Familie, Arbeitswelt und Freizeitverhalten einen galoppierenden Wandel durchmacht, dass Menschen heute – spürbarer vielleicht als in den letzten Jahrzehnten - mit existenzbedrohenden, nicht einschätzbaren Gefahren konfrontiert werden: Arbeitslosigkeit, Gefahren durch Klimawandel und Umweltverschmutzung, atomare Gefährdung, Terror. Auch Kindheit hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert: Kinder heute leben in veränderten „sozialen Strukturen“, wachsen auf in einer„Medienwelt“, entwickeln zunehmend unterschiedliche „Kindheitsmuster“. Und auch das gehört dazu: In beklagenswert zunehmendem Ausmaß wird in immer weniger Elternhäusern – sowohl vor als auch während der Schulzeit der Kinder - auf das Erreichen wichtiger Schlüsselqualifikationen hingearbeitet. Eher ist das Gegenteil der Fall. Wer aber glaubt, die veränderten Kinder in der Schule per „moderner“ Unterrichtsform und mit den romantisch-pathetischen Vorstellungen der Reformpädagogik des ausgehenden vorletzten und des beginnenden letzten Jahrhunderts an die heute erforderlichen Schlüsselqualifikationen heranführen zu können, erliegt einem verhängnisvollen Irrtum.

Die heute von der Wirtschaft genannten und über Familie, Kindergarten und Schule anzustrebenden Schlüsselqualifikationen sind zweifelsohne auch solche, die schon vor über 50 Jahren jungen Menschen zu einem erfolgreichen Start in den Beruf oder ins Studium verhelfen konnten. Vergleicht man diese mit den Zielvorstellungen der Vertreter des modernen Offenen Unterrichts (oben), ist dies Anlass genug, in eine große Nachdenklichkeit zu verfallen.

Klare Vorstellungen von dem, was Schule zu leisten hat, haben offenbar eher außerschulischen Instanzen:    

So stellen IHK/ Wirtschaft sich qualifizierte Haupt-/Realschüler vor (Quelle: Internet):

                           I.      Grundlegende Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift

Beherrschung einfacher Rechentechniken

Grundlegende naturwissenschaftliche Kenntnisse

Hinführung zur Arbeitswelt - Grundkenntnisse wirtschaftlicher Zusammenhänge

Grundkenntnisse in Englisch

            Kenntnisse und Verständnis über die Grundlagen unserer Kultur

                       II.    Zuverlässigkeit

Lern- und Leistungsbereitschaft

Ausdauer - Durchhaltevermögen - Belastbarkeit

Sorgfalt - Gewissenhaftigkeit

Konzentrationsfähigkeit

Verantwortungsbereitschaft - Selbständigkeit

Fähigkeit zur Kritik und Selbstkritik

Kreativität und Flexibilität

                    III.    Kooperationsbereitschaft - Teamfähigkeit

Höflichkeit - Freundlichkeit

Konfliktfähigkeit

Toleranz

Das Erreichen dieser Ziele/Qualifikationen muss zwingend spätestens in der Grundschule angebahnt werden, letztlich hängen davon auch die Bewährung am Arbeitsplatz und die Studierfähigkeit ab. Bemerkenswert ist allerdings schon, dass in der letztgenannten Aufstellung viele Qualifikationen genannt werden, die sehr wohl schon entscheidend für erfolgreiche Arbeits-/Lernprozesse in der Schule sind, aber in den oben dargestellten Zielvorstellungen für den modernen Offenen Unterricht überhaupt nicht auftauchen: Zuverlässigkeit, Lern- und Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Durchhaltevermögen, Belastbarkeit, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Fähigkeit zur Selbstkritik. Das hat natürlich Gründe! Wenn Kinder im modernen Offenen Unterricht sich z. B. selbst aussuchen dürfen, an welchen Aufgaben in welcher Reihenfolge sie arbeiten wollen, wie lange sie daran arbeiten wollen, an wie vielen Aufgaben  der Angebotspalette sie arbeiten wollen, können natürlich auch später Zuverlässigkeit, Lern- und Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Durchhaltevermögen, Belastbarkeit, Konzentrationsfähigkeit, Fähigkeit zur Selbstkritik keine Beurteilungskriterien sein.


Erziehungswissenschaftler warnen immer wieder davor, Kindern zu früh eine weitreichende Selbstbestimmung zuzumuten. Zu groß ist die Gefahr, dass Kinder immer wieder ausweichen und eher ihren jeweiligen Befindlichkeiten nachgehen mögen als etwas leisten zu wollen – zumal wenn  sie über längere Zeit das Gefühl kultivieren dürfen, mit solchem Verhalten ganz gut leben zu können. Qualifikationen wie Lern- und Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Belastbarkeit und Durchhaltevermögen können ganz sicher so nur schwerlich entwickelt werden. Bald schon wird sich dieser Verhaltensmodus so verfestigt haben, dass geradezu Anspruch auf ein solches Verhalten erhoben wird. Eine Ablehnung jeglicher dezidierter Leistungsanforderung ist dann die Folge. Es führt kein Weg daran vorbei, dass Kinder von Anfang an dazu angeleitet werden, auch unabhängig von ihren aktuellen Bedürfnissen und ihrer persönlichen Interessenlage eine verlässliche Leistungsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft aufzubauen, d. h. sie müssen lernen,  innerhalb gesetzter Zeitgrenzen Arbeitsaufträge zuverlässig auszuführen, ganz gleich, ob sie der inhaltlichen Seite des Arbeitsauftrags ein besonderes Interesse entgegenbringen oder eher nicht. Nie dürfen schon bei Kindern Lern- und Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Belastbarkeit und Durchhaltevermögen etc. in eine Abhängigkeit von bestimmten Tätigkeiten mit von ihnen erwünschten Inhalten geraten. Nur so können Kinder rechtzeitig für ihren weiteren Schul- und späteren Lebensweg vor einer Einstellung bewahrt bleiben, die auf einer „Lebenslüge“ für Kinder beruht. In der pädagogischen Wertediskussion werden diese Qualifikationen auch als inhaltsunabhängige Werte bezeichnet, deren Bedeutung für den weiteren Schul- und späteren Lebensweg nur die wenigsten Schüler, erst recht nicht Grundschüler, richtig einschätzen können. Dass die sog. intrinsische Motivation - also wenn sich interessengeleitete Motivation und zu lernender Inhalt im Gleichklang befinden - von ausschlaggebender Bedeutung für den Lernerfolg sei, hat sich übrigens längst als falsch erwiesen (Franz E. Weinert [Hrsg.]: Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel 2001).     


Karikierend sei der Kritik an der prozessorientierten Ausrichtung des modernen Offenen Unterrichts noch hinzugefügt: Es ist nicht auszudenken, was aus Mozart oder Beethoven geworden wäre, wenn deren Väter ihnen Klavier, Geige und Noten ins Kinderzimmer gestellt bzw. gelegt hätten mit dem Ansinnen „Nun mach mal schön!“.  Musikfreunde, die deren Biographien kennen, wissen, dass sich die Genialität Mozarts und Beethovens nur unter stetiger personaler Anleitung und straff geführter Aufsicht ihrer Väter entfalten konnte. Mit Prozessorientierung war da nichts.

 

*Ich unterscheide zwischen modernem Offenen Unterricht und traditionellem Offenen Unterricht (Kreisgespräch, angeleitete Einzel-/Partnerarbeit,  angeleiteter Gruppenunterricht in den verschiedensten Ausprägungen, Projektunterricht).


**Die Grundidee des Lernens an Stationen besteht darin, dass ein Thema in Teilgebiete untergliedert wird, die von den Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Stationen selbstständig bearbeitet werden sollen. Zu jedem inhaltlichen Schwerpunkt werden verschiedene Arbeits- und Lernangebote bereitgestellt. In der Regel dürfen die Schülerinnen und Schüler die Arbeits-/Lernaufgaben selber auswählen, über den Umfang ihrer Arbeit selber bestimmen und die Ergebnisse auch selbst überprüfen und korrigieren (Fundstelle:  Internet/Verfasser unbekannt).


***Im Werkstattunterricht, der gewisse Ähnlichkeiten mit dem Stationenlernen aufweist,  bearbeiten die Schüler selbstständig nach Wahl  unterschiedliche Aspekte eines Themas. Jeder Schüler ist Experte für einen bestimmten Bereich. Der Lehrer stellt zu einem Thema Lern-/Arbeitsangebote zusammen. Werkstattunterricht wird über zwei bis drei Wochen geplant und macht 50% des Unterrichtes aus. Die Ergebnisse sollen in der Regel ohne Lehrerhilfe bearbeitet und kontrolliert werden (Fundstelle:  Internet/Verfasser unbekannt).

 ****Der Projektunterricht wird im übernächsten Kapitel mit Hilfe eines Beispiels erklärt.

III.


Materialzentrierte Beschäftigungsorgien an Deutschlands Grundschulen

Kommerzgeleitete  Individualisierung*- und Differenzierung**



In einer fordernden Leistungsgesellschaft muss schon für die Grundschule die Leistungserziehung ein hochrangiges Mandat sein. In der Grundschule werden in jeder Hinsicht Grundsteine für die weitere schulische Laufbahn gelegt. Grundschule ist nicht Kindergarten! Grundschullehrerinnen, die nicht von Anfang an auch Leistungen einfordern und das Erreichen inhaltsunabhängiger Qualifikationen wie Zuverlässigkeit, Lern- und Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Durchhaltevermögen, Belastbarkeit, Konzentrationsfähigkeit, Fähigkeit zur Selbstkritik etc. nicht rechtzeitig anbahnen, versäumen Entscheidendes. - Auch hier gilt Prof. Manfred Spitzers, des wohl bekanntesten deutschen Hirnforschers, Forschungsresultat: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. In neurobiologischer Hinsicht ist diese Volksweisheit längst eingeholt und auf vielfache Weise bestätigt“ (Lernen - Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg/Berlin 2002). - Dazu gehört auch die Qualifikation „Selbstständigkeit“ – womit jedoch nicht schon für das  frühe Kindesalter „Selbstbestimmung“ um jeden Preis gemeint ist. Selbstbestimmung kann in der Schule höchstens denjenigen eingeräumt werden, die mindestens zu einer realistischen Selbsteinschätzung fähig sind. Eine Untersuchung Prof. Andreas Helmkes in 1997 zeigte, dass die Mehrheit der Grundschüler bei Schuleintritt kaum über ein Fähigkeitskonzept verfügt, das der Realität entspricht: So schätzten sich in den von ihm untersuchten Klassen 60% aller Erstklässler als Klassenbeste ein (in: Entwicklung im Kindesalter. Weinheim 1998). Zu vermuten wäre, dass über die Grundschulzeit hinweg zunehmend alle Schüler ihr eigenes stabiles Fähigkeitskonzept mit einer realistischen Selbsteinschätzung entwickeln könnten, das ist aber nicht der Fall. Vielmehr verläuft die Entwicklung bei sehr vielen Kindern beträchtlich schwankend und oft unterschiedlich in den einzelnen Schulfächern – warum das so ist, lässt sich nur vermuten. Nach Prof. Helmke kann eine falsche Selbsteinschätzung dazu führen, „dass die notwendigen Lernanstrengungen gar nicht mehr unternommen werden, weil der Lernerfolg für selbstverständlich gehalten wird.“ (ebd.). 


Natürlich darf man Schülern, die sich selber nicht richtig einschätzen können, es nicht allzu häufig überlassen, darüber selbst zu bestimmen, was, wann, wie, wie viel und wie lange sie lernen wollen. Das Vermögen, sich selbst einschätzen zu können, hängt aber ganz sicherlich auch von dem vorhandenen Grad an Selbstvertrauen ab. Nicht erst seit gestern ist bekannt, dass Kinder aus sozial benachteiligten Schichten, Kinder mit körperlichen Fehlbildungen, mit psychischen Fehlentwicklungen und viele Kinder mit Migrationshintergrund oft über weniger Selbstvertrauen verfügen. Es zeugt von Unverstand, bei diesen Kindern von vorne herein auf Selbstbestimmung zu setzen, sie müssen vielmehr auf lange Zeit behutsam geführt werden. Lauthals verkünden die Streiter für den Offenen Unterricht und für das selbstbestimmte, selbstorganisierte, selbstgesteuerte, selbstregulative Lernen, wie sehr in den letzten Jahren die Heterogenität in den ersten Klassen angewachsen sei, wie unterschiedlich bei den einzelnen Kindern also die Ausgangsbasis für das Dazuzulernende sei. Ohne weiteres und heftig, aber argumentationslos insistierend nehmen Verfechter des Offenen Unterrichts jedoch für alle Kinder eine Art naturgegebener Homogenität für die Fähigkeit an, mit der sie alle gleichermaßen vom ersten Schultag an selbstinitiiert, eigeninitiativ, eigenverantwortlich, selbstbestimmt und selbststeuernd lernen und  auf eben diesem Wege sich sogar das Lesen und Schreiben selbst beibringen könnten.


Der pädagogische Gedanke der Individualisierung* ist ja nicht falsch, und es ist geradezu verlockend daran zu denken, wenn sich nach dem Prinzip ’Nicht allen das Gleiche‘, sondern ‚Jedem das Seine‘ Chancengerechtigkeit herstellen ließe. Verfolgen wir nicht weiter den Gedanken, dass der moderne Offene Unterricht sich auch das Soziale Lernen als Ziel gesetzt hat. Dass sich die Ziele Soziales Lernen und Individualisierung allerdings kaum im Gleichklang verfolgen lassen, bedarf nicht langwieriger Erläuterungen. Bedenken sind gerechtfertigt, wenn Reinhold Christiani für alle Kinder die „Individualisierung der Lernziele und der Lernwege statt normierter Anforderungen“ propagiert (in: Jahrgangsübergreifend unterrichten. Berlin 2005). An anderer Stelle lässt er H .& H. Zehnpfennig gar postulieren: „Passen Sie ihre Kinder nicht an das Curriculum an, sondern das Curriculum an ihre Kinder!“ (ebd.).  Jedem Kind also sein eigenes Curriculum, seine eigenen Lernziele - zieldifferentes Lernen für alle. Normative Ansprüche könnten dann natürlich nicht mehr formuliert werden. Wozu also dann noch Lernstandserhebungen wie bei VERA?  Die Befürworter des modernen Offenen Unterrichts wissen das natürlich, und wollen Leistungsmessungen – quantitative Erhebungen- am liebsten bis ins Erwachsenenalter aufschieben. Sie verlangen prozessorientierte Bewertungen in „qualitativer“ Hinsicht, die das Fortschreiten eines Lernprozesses fokussieren. Mit ihren prozessorientierten Formulierungen und mit blumigen Redewendungen desinformieren Grundschullehrerinnen so die Eltern lange Jahre über den wirklichen Leistungsstand ihrer Kinder (in: Elternbrief Nr. 7). Eltern kennen dieses Phänomen aus den Zeugnisformulierungen für ihre Kinder, wenn Sie denn regelmäßig nachfragen müssen: „Und wie steht meine Tochter jetzt?“.


Bei konsequent durchgeführter Individualisierung in allen Fächern sowie einem konsequent Offenen Unterricht, in dem jedes Kind über das Was, Wann, Wie, Wie viel und Wie lange selbst bestimmen darf, kann natürlich am Ende der Grundschulzeit nicht erwartet werden, dass die Lernstände der  einzelnen Kinder nahe beieinander liegen - eher ist das Gegenteil anzunehmen. Schon in 2003 gibt Prof. Wolfgang Einsiedler  zu bedenken, dass mit der Aufgabe zielgleichen Lernens „zwangsläufig ein zentrales Ziel schulischer Bildungsarbeit – Verbesserung der durchschnittlichen Leistungen und Verringerung der Leistungsstreuung im unteren Bereich – “ aufgegeben wird (Wolfgang Einsiedler: Unterricht in der Grundschule. In: K.S. Cortina et al.: Das Bildungswesen in der BRD. Reinbek 2003).  Untersuchungen von Prof. D. Katzenbach et al.  haben auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass in zieldifferent unterrichteten Klassen Rückstände kaum mehr aufzuholen sind und eine hohe Leistungsstreuung erhalten bleibt (D. Katzenbach et al. in: Die integrative Grundschule. 1999). Es bedarf keiner besonderen prophetischen Gaben vorherzusagen, wie dann nach der Grundschulzeit die Schulkarrieren vieler Schüler/Schülerinnen an den weiterführenden Schulen enden und ihre Lebensbiographien ohne eigenes Verschulden ruiniert werden. Von einer Verbesserung der Chancengerechtigkeit durch modernen Offenen Unterricht kann da nun wirklich nicht die Rede sein. 


Nicht mehr überbietbare Individualisierung hieße: jedem Kind sein eigener Lehrplan, jedem Kind also seine eigenen Lernwege und Lernziele statt normierter Anforderungen, jedem Kind seine eigene Lehrerin. Das ist natürlich aus Kostengründen nicht möglich, aber darüber hinaus auch nicht unbedingt wünschenswert. Grundschulen in Deutschland haben daher von der an wachsendem Umsätzen interessierten Lehr- und Lernmittelindustrie die Steilvorlage bekommen, Individualisierung mit Hilfe der von ihr in unübersehbarer Fülle angebotenen Arbeitsmaterialien durchzuziehen. In den Vereinigten Staaten, wo übrigens der Offene Unterricht längst kein Thema mehr ist, gilt bundesweit seit 2001 das Gesetz „No Child Left Behind“. Danach sind für den Unterricht nur noch solche Methoden und Materialien zugelassen, deren erfolgreicher Einsatz empirisch nachgewiesen ist. Damit folgen die Amerikaner für den pädagogischen Bereich einer ansonsten auch bei uns selbstverständlichen Praxis, Verfahren oder Materialien erst dann flächendeckend freizugeben, wenn sie in aller Gründlichkeit getestet wurden. Bei uns sind die weitaus meisten Unterrichtsmaterialien Autorenprodukte, so Prof. Jürgen Oelkers, und somit keinen nennenswerten empirischen Kontrollen unterworfen. Jeder bei uns darf seine weder staatlich noch wissenschaftlich überprüften Unterrichtsmaterialien mit unlauteren Heilsversprechungen und mit cleverem Geschäftssinn in den Handel bringen. Als Kaufanreiz reicht bisweilen schon aus, wenn der Anbieter, Erfolg versprechend, behauptet, das angepriesene Konzept sei in dreißig Klassen „erprobt“ worden – so z. B. macht es Sommer-Stumpenhorst (in: Richtig Schreiben lernen von Anfang an. Berlin 2001). Nach Belieben  dürfen die Schulen alles einkaufen, was der Markt so an Materialien hergibt, und einsetzen dürfen sie es dann natürlich auch.  Man begnügt sich mit Einschätzungen und hält Materialien und Methoden schon dann für besonders tauglich, wenn jemand ihnen das Prädikat „modern“ erteilt hat. Bei uns sind Unterrichtsmaterialien und –methoden weit davon entfernt, auch nur ansatzweise nach den wissenschaftlichen Maßstäben Validität, Reliabilität und Objektivität überprüft worden zu  sein. Dürften auch Ärzte bei uns in dieser Manier agieren und ungeprüfte Medikamente sowie am Schreibtisch ausgedachte Behandlungsmethoden flächendeckend einsetzen, sprächen wir von einem Skandal.


In Zeiten, da lehrergesteuerte Unterrichtsmethoden in der Grundschule noch überwogen - denen ja schon seinerzeit nicht nur der Frontalunterricht, sondern auch traditionelle Formen des Offenen Unterrichts wie das Kreisgespräch, die angeleitete Einzel- und Partnerarbeit, der angeleitete Gruppenunterricht in den verschiedensten Ausprägungen zugerechnet wurden - , hatten Lehrer vor jedem Unterricht und in Hinblick auf eine konkrete Klasse eine Vielzahl von Überlegungen anzustellen und weitreichende Entscheidungen zu treffen: Welche Ziele sollen erreicht werden? Ist der Inhalt/das Thema so ausgewählt, dass ich mit dessen Hilfe die gesetzten Ziele erreichen kann? Welchen größeren Sinn- oder Sachzusammenhang vertritt oder erschließt der Inhalt? Welche Bedeutung hat der Inhalt bereits im Leben der Kinder, welche Bedeutung sollte er darin haben? Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Kinder? Welche Strukturen hat das Thema (die Sache)? Welches sind die besonderen Ereignisse, Situationen, Versuche, in oder an denen die Struktur des Inhalts den Kindern interessant, fragwürdig, begreiflich, anschaulich, eben zugänglich werden kann? Wie steht es mit den Lernvoraussetzungen? - (Fragestellung in Anlehnung an Prof. Wolfgang Klafki, Didaktiker) – In welcher Abfolge sollen die Einzelaspekte eines Themas an die Kinder herangetragen werden,  damit sich für sie ein sinnvolles Gesamtbild ergibt? Welche Unterrichtsform ist im Hinblick auf die konkrete Klasse, auf die stofflichen Einzelaspekte, auf die Ziele des Unterrichts an welcher Stelle erforderlich? An welcher Stelle können die Kinder selber aktiv/mitgestaltend beteiligt werden? An welcher Stelle sollen welche Medien eingesetzt werden? Welche Arbeitsmittel/Arbeitsblätter können/müssen/sollen in der konkreten Unterrichtssituation für die konkrete Klasse vorbereitet werden?

Lernmittelverlage täuschen heute den Grundschullehrerinnen vor, solche Fragen hätten sie ihnen abgenommen mit ihren Materialien, und das sogar für den individualisierenden Unterricht.


Wer individualisierend Materialien einsetzt, muss selbstverständlich darauf achten, dass sie auch wirklich passen, d. h. auf das Individuum zugeschnitten sind. In der Pädagogik ist da von „Passung“ die Rede. Im Gegensatz zu Finnland haben wir in Deutschland nahezu an keiner Schule geeignete Fachkräfte, die bei den Kindern punktgenau Lernstände/Defizite diagnostizieren könnten, um danach beim Einsatz von Materialien bzw. bei der Förderung ebenso punktgenau und individuell eingreifen zu können. In Deutschland haben Lehr- und Lernmittelindustrie ihre Lösung gefunden, den abenteuerlichsten Materialien zur „Individualisierung“ Eingang in die Grundschulen zu verschaffen, von Diagnostizieren ist da nicht die Rede. Bei den modernen Formen Offenen Unterrichts werden derzeit die Kinder vor vorfabrizierte Arbeitsmaterialien und Arbeitsblätter gesetzt, deren Ideengeber nicht die geringste Vorstellung von den konkreten Kindern - in einer konkreten Klasse, in einer konkreten Schule - haben, die sie bearbeiten sollen. Individualisierung! Sie haben die Kinder in „schneller lernende“ und „langsam lernende“ (= Kinder mit Lernverzögerung) eingeteilt und versorgen mit derselben Einheitskost alle Kinder gleichermaßen: Die einen lernen damit langsamer, die anderen damit schneller. So heißt es denn letzten Endes doch wieder: „Allen das Gleiche!“.


Aber das ist auch die Philosophie der Entwickler der Selbstlernkonzepte für den Spracherwerbsunterricht:  Es gibt nur „schneller lernende“ und „langsam lernende“ Kinder. Diese Philosophie eignet sich auch hervorragend dazu, Eltern bis in die vierte Klasse über den wahren Leistungsstand ihrer Kinder hinwegzutäuschen. Der Aspekt, dass bei Kindern eine Vielzahl weiterer individueller Ausprägungen über ihr individuelles Lernen bestimmt, wird offenbar kommerziellen Gesichtspunkten geopfert. Neben Eingangskönnen und Eingangswissen der Lernenden wären auch deren „Lerngeschichte“, die Zugehörigkeit zu einem bestimmtem Lerntyp, der Lernstil, die emotionale Reife, die soziokulturellen und anthropogenen Voraussetzungen zu erfassen, ganz sicherlich gehören dazu auch Krankheitssymptome jeglicher Art. Festzustellen wären ebenso die Lern- und Leistungsbereitschaft, das Ausdauerverhalten, das Durchhaltevermögen, das Belastbarkeitspotential, die Konzentrationsfähigkeit und selbstverständlich auch, was besonders wichtig ist, der vorhandene Grad an Selbstvertrauen und Selbstständigkeit.


Der Offene Unterricht im Schriftspracherwerb nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er die besonderen inhaltlichen Strukturen der unterschiedlichen Lernfelder berücksichtigen und ebenso den individuellen sprachlichen Entwicklungsstand/das individuelle sprachliche Bewusstsein (z. B. das Erkennen von Lauten, Silben, Wörtern und Sätzen oder das Operieren mit Reimen) sowie eventuell vorhandene sprachliche Beeinträchtigungen bedenken müsste. Vor dem Einsatz von Materialien für den selbstgesteuerten Schriftspracherwerb wären von besonderer Bedeutung z. B. auch Erkenntnisse um regionalspezifische Beeinträchtigungen der (Aus-) -sprache (Dialektfärbung, defizitäre Grammatik), besondere Merkmale der Sprachkompetenz/-entwicklung, der Lautbildungskompetenz (besonders bei Kindern mit fremdsprachlichem Familienhintergrund).  Dazu gehört natürlich auch die Erfassung der Kinder mit anatomisch oder sonst wie bedingten Hörfehlern, mit anatomisch oder sonst wie bedingten Aussprachefehlern, mit – wie auch immer bedingten – Störungen  auf dem Weg vom Hören zum Sprechen. Es ist also ziemlich unsinnig und verantwortungslos, die Kinder einfach nur in „schneller lernend“ und „langsam lernend“ zu differenzieren. ADS-Kinder, die über eine hohe Intelligenz verfügen, gehören sehr oft zu den langsamen Lernern, für sie ist der Offene Unterricht schlichtweg ungeeignet.


Der derzeit propagierte moderne Offene Unterricht zur Individualisierung, der in der Fachwelt bezeichnenderweise auch „materialgeleiteter Unterricht“ genannt wird, verwendet in der Mehrheit vorfabrizierte Materialien, die zur wirklichen Individualisierung herzlich wenig taugen. Erziehungswissenschaftler Prof. Jürgen Oelkers übt herbe Kritik an der eindimensional ausgerichteten Methodengläubigkeit mancher Lehrer/Lehrerinnen: „Es ist ein grundlegender Irrtum anzunehmen, mit bestimmten Formen des Unterrichts seien alle Schüler gleich gut bedient, wobei Grundschullehrkräfte vielfach annehmen, die offenen Formen seien gegenüber den strukturierten die eigentlich geeigneten, weil sie »schülerbezogen« und »aktivierend« erscheinen“ (in: Wie man Schule entwickelt. Weinheim 2003).  Wie sich unschwer aus den Ranglisten bei IGLU herauslesen lässt, sagt das Nominelle von Unterrichtsmethoden oder  Unterrichtsmaterialien jedoch noch wenig über ihre tatsächlichen Qualitäten und Effekte aus. Wenn das so wäre, müsste die deutsche Grundschule ein Erfolgsmodell sein.


Dem Begriff nach „offen“ zu unterrichten verlangt von Lehrerinnen heute nicht unbedingt besondere Anstrengungen. Einschlägige Verlage versorgen sie heute mit „fertigen“ Lernwerkstätten für 19,50 €, die „Obst-Werkstatt“ etwa für die Kinder der kleinen Landschule wie auch für die der städtischen Brennpunktschule oder die der vorwiegend von Migrantenkindern besuchten Stadtschule. Den Lehrerinnen bleibt nur das Kopieren. Manche Verlage möchten ihren Abnehmern die Arbeit mit ihren Materialien versüßen: Sie versprechen den Lehrerinnen Ruhepausen für die Zeit, in der die Kinder arbeiten.


Es gibt Lehrerinnen, die den modernen Offenen Unterricht mit seinen Arbeitsmaterialien und Arbeitsblättern, besonders dann, wenn es sich um Fertigware von irgendwelchen Verlagen handelt, für pädagogische Showveranstaltungen halten. Sie ziehen eine behutsame Öffnung des Unterrichts vor, arbeiten mit einer Mixtur aus frontaler Unterrichtsarbeit, aus Kreisgespräch, angeleiteter Einzel- und Partnerarbeit sowie aus  angeleiteter Gruppenarbeit in den verschiedensten Ausprägungen. Sie entscheiden sich damit bewusst gegen die Fehlformen modernen Offenen Unterrichts. Und sie ziehen den frontalen Unterricht dem materialgeleiteten Offenen Unterricht dann erst recht vor, wenn die Materialien wegen ihrer einengenden Aufgabenstellungen offensichtlich nicht mehr zu bieten haben als der als 'fremdbestimmt' und 'lehrerzentriert' gebrandmarkte traditionelle Unterricht und sie zudem - in einer bestimmten Situationen - den frontalen Unterricht, etwa aus arbeitsökonomischen Gründen, für sinnvoller erachten. Ihre ablehnende Entscheidung könnten sie auch trefflich begründen mit eben denselben Worten, mit denen Peter Petersen Anfang der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts die verborgenen „Qualitäten“ in den Arbeitsmaterialien für seinen 'Offenen Unterricht' beschrieb: „ Der Lehrer verlockt durch die Arbeitsmittel den Schüler zu einer Übernahme, die die denkbar größte Bindung für den Schüler bedeutet; denn – indem sich der Schüler durch die Arbeitsmittel ’frei und selbstständig’ bildet, erfüllt er gerade die fest umgrenzten klaren Absichten des Lehrers; er führt die vom Lehrer in die Arbeitsmittel versenkten Befehle gehorsamst aus; er geht, wie kaum sonst, genau den Weg des Lehrers“ (Peter Petersen: Führungslehre des Unterrichts. Braunschweig/Berlin/Hamburg/München/Kiel/Darmstadt.1963).


Erforschendes, entdeckendes Lernen wird sich kaum in der Schule an vorfabrizierten Arbeitsmaterialien von der Stange initiieren lassen, eher schon an außerschulischen Lernorten wie z. B. am Bach, wo sich vielfältige Aktivitäten für das Erkunden mit Becher, Sieb und Lupe anbieten. Und wenn es darum geht, dass sich Schüler auch einmal pures Faktenwissen erarbeiten sollen? Selbst erarbeitetes Wissen soll besser behalten werden, heißt es. Das kommt allerdings ganz darauf an, wie damit in der Schule umgegangen wird! Werden Arbeitsergebnisse im Offenen Unterricht nicht aufgearbeitet, wird ihnen keinerlei Beachtung - auch nicht in inhaltlicher Hinsicht - geschenkt, werden Arbeitsblätter schon bald dem Abfall zugeordnet, gibt es keine weiteren übenden Verarbeitungen oder Wiederholungen, wird das erarbeitete Wissen in keiner Weise den Weg gehen, den es gehen sollte: ins Langzeitgedächtnis.   


*“Individualisierung“ heißt, mit unterrichtlichen Mitteln Kinder individuell fordern und fördern. In Deutschland ist damit in der Regel an die  individuelle Förderung für alle durch die eine Lehrerin in der Klasse gedacht. In Finnland wird individuell gefördert und gefordert, indem in Klassen mit über 20 Kindern der Lehrerin eine Assistentin zur Seite steht und beide, je nach Erfordernis, die Schwächeren unterstützen oder den Stärkeren voranhelfen. Darüber hinaus werden in finnischen Schulen die Leistungsdefizite der schwachen Schüler von Fachkräften punktgenau diagnostiziert, dann werden die Kinder in Kleingruppen mit bis zu vier Kindern oder in Einzelunterricht hausintern von Speziallehrern an die erwarteten Leistungen herangeführt. Mit dieser Form der Individualisierung haben die Finnen gezeigt, wie man schwächere Schüler nicht außen vor lässt.

 

**Bei „Differenzierung“ unterscheidet man in „äußere Differenzierung“ und „Binnendifferenzierung“. Die heterogene (leistungsunterschiedliche) Klasse wird in homogene (leistungsgleiche bzw. leistungsähnliche) Gruppen unterteilt, mit entsprechenden Materialien werden dann die einzelnen Gruppen entweder außerhalb der Klasse oder, bei „Binnendifferenzierung“,  innerhalb der Klasse gefördert. Die „äußere Differenzierung“ ist für deutsche Grundschulen nicht vorgesehen, offenbar deshalb nicht, weil jede Außengruppe von jeweils einem weiteren Lehrer geführt werden müsste.  Anstatt dessen setzt die deutsche Pädagogik auf „Binnendifferenzierung“ , die jedoch von finnischen Lehrern für völlig ineffektiv gehalten wird. 


 

IV.


Projektunterricht:

eine missverstandene und unpopuläre Form Offenen Unterrichts


Eigentlich gehört der Projektunterricht auch längst zu den traditionellen Unterrichtsformen, die bereits um die Mitte des letzten Jahrhunderts regelmäßig in unseren Schulen praktiziert wurden. Ältere Lehrer/Lehrerinnen werden sich erinnern, dass Projekte damals noch den Ansprüchen „Lehrer und Schüler machen Unterricht“ genügen wollten und tatsächlich fächerübergreifende und durch ihre lebensbezüglichen Ausgangssituationen für alle Beteiligten motivierende Veranstaltungen waren. In beklagenswerter Breite hat heute der Projektunterricht - dies insbesondere ausgerechnet bei vielen Verfechtern des modernen Unterrichts - an Bedeutung verloren. Was heute in vielen, ja  - wie zu beobachten ist - sogar in den meisten Fällen als Projektunterricht benannt wird, sind einseitig von Lehrern/Lehrerinnen durchgeplante und gesteuerte Thementage oder -wochen, die im Ergebnis oft nur darauf abzielen, als krönenden Abschluss den Schülereltern Schau und Show zu bieten, allzu häufig eine solche in potemkinscher Manier.

 

Schon vor über dreißig Jahren, als von Offenem Unterricht noch nirgendwo die Rede war,  kam es nicht selten vor, dass auch schon einmal eine junge Referendarin den Blick für den „fruchtbaren Augenblick im Bildungsprozess“ hatte und ihren Unterricht öffnete. So hatte Frau S. in der zweiten Klasse einer städtischen Grundschule ihrem Fachleiter eine Deutschstunde „vorzuführen“. In ihrer lehrerzentriert geplanten Unterrichtsstunde wollte sie ihre Kinder mit dem Gebrauch des Adjektivs in der Funktion des Attributs vertraut machen.  Grammatikstunde mit Sprachbuch und Arbeitsblättern, also: rot – Auto > das rote Auto, klein – Junge > ein kleiner Junge, schließlich auch: lecker – saftig - Apfel > ein leckerer saftiger Apfel.

Ein Schülerin brachte schließlich den Stein ins Rollen. Sie zeigte auf und berichtete der Klasse und ihrer Lehrerin, dass sie sich ein Kätzchen gewünscht hatte und daraufhin mit ihren Eltern in der Tageszeitung die Tieranzeigen durchsucht habe. Und da habe sie es gefunden: ein „niedliches schwarzhaariges Schmusekätzchen“. Auch andere Kinder hatten schon solche Anzeigen gelesen, auch solche unter der Rubrik „Tauschbörse“, und berichteten nun davon. Die Lehrerin ging auf all die lebhaften Wortmeldungen ein, griff einige der Beispiele auf und schrieb sie an die Tafel: neues Mädchenfahrrad – gepflegtes wasserdichtes Hauszelt - .... . Eine weitere Schülerin meldete sich zu Wort: „Können wir hier auch mal ’ne Tauschbörse machen? Ich habe da eine Idee!“.  Frau S. ließ gottlob von ihrer Planung ab und konnte sich kaum der lebhaft vorgebrachten weiteren Ideen erwehren. Nun nahm der Projektunterricht seinen Lauf:


An diesen Kriterien (nach Prof. Herbert Gudjons) musste sich dieses „Miniprojekt“ messen lassen:


Eines hat Prof. H. Gudjons bei seiner Auflistung allerdings vergessen: Unterricht wie dieser, produktorientiert/ergebnisorientiert ließ die Kinder - sogar im Deutschunterricht - ein motivierendes Werkerlebnis haben. Vielleicht sollte ein solcher Unterricht sogar die wirkliche Erlebnispädagogik repräsentieren! Außerdem: Bei Schülern und Lehrerin waren Sensibilität, Motivation und Lust gewachsen, Unterricht wieder einmal gemeinsam zu planen.  Und weil es zum Projektunterricht heißt: „Lehrer und Schüler machen Unterricht.“, durfte natürlich in der Folgezeit auch die Lehrerin bisweilen ein Projekt anstoßen.


Mit diesem Projekt hatte Frau S. aber darüber hinaus nicht nur Wesentliches für ihren Sprachunterricht geleistet, die Kinder nämlich  in den wirkungsvollen Gebrauch des Attributs einzuführen, sie hat darüber hinaus die Kommunikationskompetenz gefördert, die zugleich  auch soziale Handlungskompetenz ist. Schon zeitig in der Grundschule – ab der zweiten Klasse etwa - müssen Kinder lernen, dass man mit Texten bestimmte Absichten verfolgen kann, dass Texte sich an (konkrete) Adressaten richten, dass Texte ganz sicherlich nicht „auf selbstbestimmte Weise“ und "irgendwie" geschrieben werden dürfen – dass Texte nicht einfach nur Texte sind, die z. B. folgenlos im Papierkorb enden. Schon Kinder in der Grundschule müssen wissen: Das, was ich – jetzt oder später -  an/für einen Kommunikationspartner schreibe, muss diesen ansprechen/erreichen und für ihn zumutbar sein: Der Text muss einer bestimmten Form entsprechen (Ordnung, Sauberkeit), er muss verständlich sein (Aufbau, Satzbildung, erkennbare Schreibabsicht, mit einer Rechtschreibung, die [zunächst mindestens] eindeutig die Wortbedeutung zu erkennen gibt), er muss lesbar sein (lesbare Schrift). Das ist die Messlatte, mit der Kommunikationskompetenz als soziale Handlungskompetenz gemessen wird! Und auch das sollen Kinder beizeiten wissen: Mit ihren Texten können sie Reaktionen herausfordern. Auch das ist soziales Lernen!


Projektunterricht ist eine unpopuläre Form Offenen Unterrichts geworden, obschon mit diesem Unterricht Gestaltungs- und Lernziele erreicht werden können, die weit über das hinausgehen, was für den üblichen und lauthals propagierten modernen Offenen Unterricht formuliert wird. Bei keiner anderen Unterrichtsform wie dem Projektunterricht wachsen Kindern auf ungekünstelte Weise so viele Freiräume zur Mitbestimmung und Mitgestaltung zu,  dass sie es eigentlich verdient hätte,  die in der demokratischen Schule präferierte Unterrichtsform  zu sein. Vielleicht hat dieser Offene Unterricht den Fehler, dass in ihm produktorientiert,  d. h. ergebnisorientiert gearbeitet wird, vielleicht aber liegt sein Mangel auch ganz einfach darin, dass für den oben gezeigten Projektunterricht keine vorfabrizierten Materialien/Arbeitsblätter angeboten werden.  Nach empirischen Untersuchungen zum Projektunterricht liegt derzeit der Anteil des wirklichen Projektunterrichts am gesamten Unterricht nur bei etwa 0,5%.


Moderner „Projektunterricht“ heute ist in der Regel eine lehrergesteuerte Themenwoche: 

Lehrerkonferenz/„Wir machen eine ‚Projektwoche’ “ – Festlegung des Themas d. die Lehrerinnen – Festlegung der Einzelthemen d. die Lehrerinnen – Bildung der Arbeitsgruppen (zunächst wählen die Kinder frei aus/die Lehrerinnen steuern nach) – eine Woche Auflösung der Klassen, anstatt dessen „Projektunterricht“ in Gruppen - Präsentation der Ergebnisse durch die Lehrerinnen am Wochenende danach: Filme, Fotos, Bilder, Plakate, Gebasteltes, Abgeschriebenes, Fotokopiertes, etc. . Schau und Show, dazu Kaffee und Kuchen. Ende der „Projektwoche“.


 

V.

 


Studien belegen:  Moderne Offene Unterrichtsformen ignorieren die Wirklichkeit des Grundschülers

Anhänger des Offenen Unterrichts sind gegen vergleichende Untersuchungen durch unabhängige Wissenschaftler


Wenn Grundschullehrerinnen Eltern etwas vom modernen Unterricht vorschwärmen,  verfallen auch etliche Eltern in das Denkmuster: „Jetzt wird alles gut!“. Dabei ist „modern“ ja alles andere als ein Wertbegriff! Was gestern noch modern war, ist heute längst der Vergänglichkeit anheim gefallen. Und auch die „modernen“ Selbstlernmethoden“ zum Schriftspracherwerb haben nach Überzeugung ernst zu nehmender Grundschuldidaktiker längst ihre Halbwertzeit überschritten.

 

Dass hierzulande Termini wie „traditioneller Unterricht“ und „Frontalunterricht“ oder „lehrerzentrierter Unterricht“ zu diskriminierenden Kampfbegriffen geworden sind, beklagte der vor drei Jahren verstorbene Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, Prof. F. E. Weinert, immer wieder vergebens (u. a. in: F. E. Weinert [Hrsg.]: Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel 2001). Dabei gehört die Diskussion Offener Unterricht versus Direkte Instruktion in vieler Hinsicht zu den absurdesten Phänomenen deutscher Schulpädagogik. Gewiss, einige der namhaften Vertreter des modernen Offenen Unterrichts haben sich inzwischen ihre Hintertüren zu einem einigermaßen geordneten Rückzug geöffnet.  Wenn der wohl bekannteste deutsche Didaktiker Prof. Hilbert Meyer in seiner letzten Buchveröffentlichung (in: Was ist guter Unterricht? Berlin 2004) bekennt: „Ich muss auf meine alten Tage umlernen. Die Über- oder Unterlegenheit bestimmter Unterrichtskonzepte lässt sich zur Zeit empirisch nicht nachweisen.“, ist das nicht einmal die halbe Wahrheit. Prof. Herbert Gudjons setzt seine neue Offenheit für Bewährtes noch pointierter in Szene: Seiner Veröffentlichung in 2003 gibt er den Titel „Frontalunterricht – neu entdeckt“ (Bad Heilbrunn 2003). Auch Prof. Rainer Winkel warnt vor einer Unterschätzung des Frontalunterrichts: "Die beste Voraussetzung für einen beweglichen Unterricht (= Offenen Unterricht, Anm. des Autors) mit einem flexiblen Methodeneinsatz ist die Beherrschung eines guten Frontalunterrichts, den es zunächst zu lernen gilt. Ehe man also ungewöhnliche Häuser baut, sollte man ganz gewöhnliche zu konstruieren gelernt haben!" (in: Offener oder Beweglicher Unterricht? Zur Klärung einer Misslichkeit. In: Grundschule 1993.)


Die Reflexionsbasis des erfahrungsgemäß beklagenswert militanten Werbezugs für den modernen Offenen Unterricht mutet abenteuerlich an: Die Praxis des modernen Offenen Unterricht wird damit gerechtfertigt, „dass der pädagogisch-didaktische Ansatz der ’Öffnung des Unterrichts’ sich als ein Konstrukt aus theoriegeleiteter Perspektive als plausibel und für die Realisierung des Bildungsauftrags der Grundschule als brauchbar erweist. (Prof. Petra Hanke: Öffnung des Unterrichts in der Grundschule. Münster 2005)“.  Seit nahezu 40 Jahren „erweist“ sich also inzwischen dieses Konstrukt „aus theoriegeleiteter Perspektive“ für die Grundschule als „brauchbar“, nur: Weder in Deutschland noch im gesamten angloamerikanischen Raum oder darüber hinaus gibt es auch nur eine einzige Studie, die belegen könnte, dass der moderne Offene Unterricht in der Grundschule auch nur annährend gleich hohe Schülerleistungen hervorbringen kann wie der traditionelle bzw. der lehrergesteuerte Unterricht (= Direkte Instruktion).  Selbst brennende Befürworter des modernen Offenen Unterrichts wie Prof. Eiko Jürgens, Bielefeld, räumen das mittlerweile ein, sie äußern sich jedoch nur sehr zurückhaltend und unkonkret, wenn sie anerkennen müssen, dass bezüglich der erreichten Schülerleistungen der lehrergesteuerte Unterricht dem Offenen Unterricht „tendenziell“ überlegen zu sein „scheint (in: Die ‘neue’ Reformpädagogik und die Bewegung Offener Unterricht. Sankt Augustin 1996.).  Des ungeachtet gelten für Prof. Hanke dieser „pädagogische Ansatz“ und die derzeitige Verbreitung des modernen Offenen Unterrichts als ein „wesentlicher Indikator für Unterrichtsentwicklung und Grundschulreform“.  Wenn in nahezu 40 Jahren die Theorie des Offenen Unterrichts es nicht geschafft hat, solche Unterrichtsformen zu entwickeln, die auch in der Praxis alle Schüler einer Grundschulklasse dahin führen, dass sie zumindest die gleichen Leistungen erzielen wie die aus traditionell geführten Klassen, stellt sich die naheliegende Frage: Wie lange müssen Kinder in Deutschland noch darauf warten, effektiv unterrichtet zu werden? Schließlich ließe sich – die derzeitigen Verhältnisse karikierend – jetzt fragen: Wie und in welchem Maße müssen unsere Kinder schon vor ihrer Grundschulzeit ummodelliert werden, damit sie dann in der Schule für den modernen Offenen Unterricht mit seinen vielen Fehlformen zu brauchen/gebrauchen sind?

 

Für Prof. Hanke liegen die Gründe für die Misere des Offenen Unterrichts aber nicht bei den Kindern, sondern bei den Lehrerinnen. Daher will sie bei diesen nämlich  jetzt neue „pädagogisch-didaktische Kompetenzen wie Beobachtungs-, Deutungs-, Beratungs-, Förder-, Differenzierungs- und Reflexionskompetenzen auf der Basis fundierten sachanalytischen, entwicklungs- und kognitionspsychologischen sowie pädagogisch-didaktischen Wissens“ aufbauen und entfalten. Offenbar aber mag Prof. Hanke auch einer solchen Professionalisierungskampagne noch nicht so ganz trauen und in ihr nur zweifelnd den erlösenden Garanten für den Durchbruch des modernen Offenen Unterrichts sehen: „Auf diese Weise kann es möglich werden, [.....] schließlich die Chancen eines offenen Unterrichts konstruktiv auszuschöpfen“.  Warten wir noch einmal 40 Jahre? Insgesamt scheinen die insistierenden Thesen von Prof. Hanke zu belegen, dass es ihr eigentlich gar nicht um Kinder geht, sondern um die flächendeckende Einführung des Offenen Unterrichts – und das auch gegen die Wirklichkeit der Grundschüler. Diesen Eindruck hinterlassen übrigens auch andere Verfechter des modernen Offenen Unterrichts mit einer  geradezu kinderfeindlichen Argumentation. 

 

An dieser Stelle noch einmal der Vergleich mit der Medizin: Wäre es denkbar, dass in Deutschland über 40 Jahre hinweg Ärzte ihre Patienten mit Methoden behandeln dürften, die nachweislich, also aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen, traditionellen Behandlungsmethoden unterlegen sind? Gewiss, die Situation ist eine andere: Der falschen ärztlichen Behandlung folgt erkennbar schon bald darauf eine nicht zu verheimlichende Verschlechterung des Patientenzustandes, bei falsch unterrichteten Kindern werden die Folgen u. U. erst nach Jahren sichtbar.

      

Schon 1988 weist Prof. Slavin (Educational Psychology: Theory into practice. Englewood Cliffs 1988) darauf hin, dass Offener Unterricht zu Lasten des Lernfortschritts beim Lesen, Schreiben und Rechnen geht und dem Lernfortschritt gewisse Grenzen gesetzt sind.

Gerade für den  Anfangsunterricht wird schon länger mit eindeutigen Aussagen von der Überlegenheit traditioneller Unterrichtsformen berichtet (in: Ch. Klicpera/B. Gasteiger Klicpera: Psychologie der Lese- und Schreibschwierigkeiten. Weinheim 1998): “Wenn am Ende der 1. Klasse die Auswirkungen der beiden Unterrichtsarten auf den schulischen Fortschritt der Kinder bestimmt wurden, zeigte sich ein klarer Vorteil des traditionellen Unterrichts“.

Prof. Wolfgang Schnotz formuliert vorsichtig, aber dennoch dezidiert: „Beim Erwerb von Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen sind dem Offenen Unterricht relativ enge Grenzen gesetzt“ (in: Pädagogische Psychologie. Weinheim 2006).

Prof. Agi Schründer-Lenzen, Berlin, (Schriftspracherwerb und Unterricht. Opladen 2004) greift Befunde aus dem angloamerikanischen Raum auf und fasst in Anlehnung an das Konzept „direct instruction“ von Prof. B. Rosenshine (in: Content, time and direct instruction. Berkeley 1979) folgende Kernelemente effektiven Unterrichts zusammen:

 

(in: Schriftspracherwerb und Unterricht. Opladen 2004)


Prof. Schründer-Lenzens Fazit: „Lehrer, die in dieser Form ’direkt’ unterrichten, erreichen bei ihren Schülern den höchsten Lernzuwachs“. Damit sind alle Schüler gemeint. Auch die Harvard - Professorin Jeanne Chall (in: The Academic Achievement. New York/London 2002) kommt zu dem Ergebnis, dass der lehrerzentrierte Unterricht zu wesentlich besseren Leistungen führt als die “progressiven Unterrichtsmethoden”. Zuvor hatten schon Prof. R. Murnane und Prof. F. Levy (in: Teaching The New Basic Skills. New York 1996) durch Untersuchungen belegen können, dass „produktives Unterrichten“ dem selbstorganisierten Lernen weit überlegen ist. Belegt ist mittlerweile auch bei uns, dass lehrerzentrierter Unterricht besonders die Schüler aus unteren sozialen Schichten besser fördern kann. Gewiss können besser begabte Kinder vom Offenen Unterricht profitieren, aber alle anderen, insbesondere die mit den schlechteren schulischen Voraussetzungen,  sind bei offenen Unterrichtsformen die Verlierer. Lernpsychologen warnen schon seit vielen Jahren vor dem wachsenden Schereneffekt als Folge Offenen Unterrichts: Die Kluft zwischen „guten“ und „schlechten“ Schülern wird immer größer, so auch Prof. Andreas Krapp/Prof. Bernd Weidenman (Andreas Krapp/Bernd Weidenman [Hrsg.] in „Pädagogische Psychologie“ .Weinheim 2001.). Sie geben außerdem zu bedenken, dass der Offene Unterricht  es oft an Anleitung und Unterstützung der Lernenden fehlen lässt, was besonderes bei Schülern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen zu Desorientierung und Überforderung führen kann. Die Unterrichtsforscher und Erziehungswissenschaftler Prof. F. E. Weinert/Prof. A. Helmke (Entwicklung im Grundschulalter. Weinheim 1998) und Prof. W. Einsiedler (in: Grundschulforschung. 1999) wiesen bereits vor zehn Jahren darauf hin, dass leistungsschwache Schüler auf besonders effektive Leistungsarrangements angewiesen sind.


Dagmar Tews, eine junge Wissenschaftlerin der Universität Kiel, legt mit ihrer Dissertationsschrift „Der sogenannte Offene Unterricht vor dem Hintergrund schultheoretischer, curricularer und psychologischer Kriterien“ [2000] nach akribischen Untersuchungen zur wissenschaftlichen Befundlage eine wegweisende Betrachtung zur Machbarkeit Offenen Unterrichts in der Grundschule vor: 



In angloamerikanischen Primarschulen hat der Offene Unterricht – entgegen anderslautenden Beteuerungen- seit dem Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts kaum mehr Bedeutung: Das mag an den Ergebnissen aus der Bennett-Studie gelegen haben (Bennett, N.: Unterricht und Schülerleistung. Stuttgart 1979). Auch Bennett kam seinerzeit zu dem Ergebnis, dass traditionell unterrichtete Schüler höhere Leistungen in den Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Mathematik erbringen. Dass offen unterrichtete Kinder sich kreativer verhalten als traditionell unterrichtete, konnte er per Studie als Märchen entlarven, und dass auch hochbegabte Kinder bei kognitiven Inhalten von einem gut strukturierten traditionellen Unterricht in besonderem Maße profitieren können, war auch nicht erwartet worden. Auffallend war allerdings dies: Eine der untersuchten offen unterrichteten Klassen fiel durch ihre guten Ergebnisse auf. Bei genauem Hinschauen fand man heraus, dass die Kinder dieser Klasse sowohl von dem sorgfältig durchdachten Curriculum als auch von dem gut strukturierten Unterricht und gewissenhaft ausgesuchten Unterrichtsmaterial profitiert hatten. Umgekehrt kommt das natürlich auch vor: Bisweilen gibt es bei Untersuchungen auch in der traditionell unterrichteten Gruppe schon einmal einen „Ausreißer“ mit unerfreulichen Ergebnissen. Deshalb wird ja nie auch nur eine Klasse gegen eine andere Klasse untersucht, stets werden aus mehreren Klassen bestehende Gruppen miteinander verglichen. Nur so führt eine Studie zu Aussagen, die verlässlich sind. Insgesamt gilt aber ohne Einschränkungen, wie auch durch weitere Studien in angloamerikanischen Schulen belegt ist, dass traditionelle Unterrichtsformen – offenbar wegen ihrer durchweg besseren Strukturiertheit -  den offenen überlegen sind.


Im Gegensatz insbesondere zu angloamerikanischen Ländern hat Deutschland keine Tradition in vergleichender Grundschulforschung. Die Ursachen sind vielfältiger Natur, aber wenn es um die Erforschung der Wirksamkeit des modernen Offenen Unterricht geht, sind die Gründe recht eindeutig bestimmbar: Es gibt „vor allem unter den Anhängern des offenen Unterrichts erhebliche Widerstände gegen vergleichende Untersuchungen durch unabhängige Wissenschaftler. So wird beispielsweise argumentiert, die Ergebnisse eines schülerzentrierten Unterrichts könnten nicht mit quantitativ empirischen Methoden erfasst werden, da es stets um qualitative, ganzheitliche Veränderungen gehe und die eigentlichen Lernerfolge sich vor allem in schwer fassbaren Persönlichkeitsentwicklungen manifestierten [Roßbach: Empirische Pädagogik. 1996.]“ (Peter May in: Untersuchung lernförderlicher Merkmale des schriftsprachlichen Unterrichts in der Grundschule. 1999). Prof. Peter May sieht darin eine  Abschottung gegenüber empirischer Überprüfung des Lernerfolgs“, die nichts anderes ist als „eine Form der Selbstimmunisierung“, die „Raum für beliebige Spekulationen und Erfolgszuschreibungen lässt“.


In den in Deutschland zum Offenen Unterricht durchgeführten Studien geht es in aller Regel nicht darum, Erkenntnisse über die Schülerleistungen  in traditionell bzw. offen unterrichteten Klassen zu gewinnen, um sie dann vergleichen zu können. Danach wären nämlich „harte“ Fakten zu erwarten. In Deutschland befassen sich Grundschulstudien derzeit noch durchweg vorrangig mit dem oben beschriebenen prozessorientierten Lernen. In einer Internetveröffentlichung (1997/1998) der Universität Bielefeld stellte der glühende Befürworter moderner offener Unterrichtsformen, Prof. Dr. Eiko Jürgens, ein Forschungsprojekt vor, das beispielhaft alle Züge vieler weiterer ähnlicher Studien aufweist:   



Böse Zungen behaupten, dass Forschungsergebnisse aus solchen Studien dasjenige bestätigen und damit legitimieren, was ohnehin gewollt ist. Richtig ist, dass Erkenntnisse bei solchen Studien nahezu allesamt ausschließlich aus Beobachtungen, Einschätzungen und Folgerungen gewonnen werden, d. h. auf subjektive Wahrnehmung zurückzuführen sind. Zu Recht wird daher auch argumentiert, dass Zuwächse z. B. beim selbständigen oder sozialen Lernen (etc.) nicht wirklich  messbar sind und höchstens vermutet werden können.   


VI.

 

Traditioneller Unterricht ist schlecht – Offener Unterricht ist gut

Blinde Eiferer auf beiden Seiten schaden den Schülern


Prof. Hilbert Meyers Kompromissformel findet offenbar nur wenig Gehör, er erteilt der Monokultur sowohl auf der einen als auch auf anderen Seite eine Absage und weist der neuen Schule Auswege aus der Sackgasse (in: Was ist guter Unterricht? Berlin 2004). Er setzt auf Methodenvielfalt , die sich aber stets gewissen fundamentalen Kriterien unterzuordnen hat: Klare Strukturierung des Unterrichts, hoher Anteil echter Lernzeit, inhaltliche Klarheit, individuelles Fördern, intelligentes Üben, transparente Leistungserwartungen. Diese Kriterien weisen auf einen soliden Unterricht hin, der nichts zu tun hat mit den oben aufgezeigten und  zuhauf in Grundschulen praktizierten Fehlformen Offenen Unterrichts oder gar mit  Prof.  Falko Peschels Forderung,  die „Entscheidung für oder gegen das Lernen“ den Kindern selbst zu überlassen. Nach dessen Vorstellungen von Öffnung des Unterrichts soll den Kindern konsequent inhaltlich und methodisch der größtmögliche Freiraum eingeräumt werden (Falko Peschel.: Wenn schon, denn schon. Öffnung zwischen Radikalität, Konsequenz und Illusion. In: Die Grundschulzeitschrift 1997.).


Kein Zweifel besteht inzwischen darüber, dass der Öffnung des Unterrichts gewisse Grenzen gesetzt sind. An die unterschiedlichen Formen Offenen Unterrichts müssen Kinder erst altersangemessen herangeführt werden, das gilt insbesondere auch für das selbstständige Arbeiten. Gerade für Kinder in den ersten Klassen der Grundschule gilt, dass der Unterricht in der Grundschule nach den vorliegenden wissenschaftlichen Befunden vorwiegend traditionell gestaltet werden sollte. Es gibt ebenso keinen Zweifel daran, dass das Prinzip der Selbstbestimmung im Offenen Unterricht viele (die meisten?) jüngere(n) Kinder in der Grundschule überfordert: Sie sind auf die Unterrichtsführung durch die Lehrerin angewiesen.


Wenn Eltern sehen, dass die Grundschullehrerinnen ihrer Kinder einen systematischen, gut strukturierten sowie lehrplan- und leistungsorientierten Unterricht erteilen, der sich zudem einer wohl durchdachten Methodenvielfalt mit frontalem Unterricht, aber auch mit traditionellen offenen Formen - Kreisgespräch,  angeleitete Einzel- und Partnerarbeit, angeleiteter Gruppenunterricht, Projektunterricht - verpflichtet fühlt, dürften sie beruhigt sein. Gute Lehrerinnen wissen schon seit Jahrzehnten, dass Unterrichtsformen wie das Kreisgespräch, die angeleitete Einzel- und Partnerarbeit, der angeleitete Gruppenunterricht sowie der Projektunterricht diejenigen für die Grundschule geeigneten Unterrichtsformen sind, die nicht überfordern, die Räume für sinnvolle Individualisierung öffnen und sich als Vehikel eignen, Kindern auch den Erwerb von Schlüsselqualifikationen wie soziales Lernen, Selbständigkeit, Selbstverantwortung und Eigeninitiative zu ermöglichen. 

 

Leider aber hat Frau Prof. Dr. Renate Valtin mit ihrer schon vor Jahren gemachten Äußerung Recht: "Auf der Ebene der grundschulpädagogischen Diskurse tauchen Ergebnisse empirischer Forschung nur in Spurenelementen auf. Auch auf der Ebene der Praxis spielt die Empirie keine entscheidende Rolle .....: alle wichtigen grundschulpädagogischen Entscheidungen (4- oder 6jährige Grundschuldauer, Einschulungsalter, Forderung nach offenem Unterricht und Freiarbeit) sind ohne empirisch abgesicherte Grundlagen getroffen worden."

 

Schlimm ist, dass inzwischen kommerzielle Interessen in unvorstellbarem Ausmaß das Ansehen des solide geführten Offenen Unterrichts beschädigt haben. Zur Kritik geben aber auch solche Professoren Anlass, die ihre Eitelkeiten nicht überwinden mögen und es vorziehen, - entgegen dem fortgeschrittenen Erkenntnisstand ihrer Kollegen - auf überkommenen unrealistischen Positionen zu beharren.  


Offener Unterricht – ein komplexes Thema! Und das macht es erforderlich, im Laufe der Zeit diesen Elternbrief immer wieder um neue Befunde zu ergänzen.   

 

J. Günter Jansen